Besatzung und Demokratie – Reisebericht Palästina-Israel

Ein Reisebericht von Claudia Roth und Jürgen Trittin

Vom 13. bis zum 16. beziehungsweise 17. September 2015 besuchten wir das palästinensische Autonomiegebiet der Westbank und Israel. Anlass der Reise war die Verabschiedung des Leiters des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, René Wildangel. Aus diesem Anlass führten wir eine Reihe von Gesprächen zur aktuellen Lage in der Region, unter anderem mit dem Premierminister der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Rami Hamdallah, sowie mit Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen in Palästina und Israel sowie Nichtregierungsorganisationen.[1]

Zusammenfassung

  • Auch wenn ein Jahr nach dem Ende des dritten Gaza-Krieges eine scheinbar ruhige Lage eingetreten ist, offenbaren sich unter der Oberfläche enorme Spannungen. Angesichts der Lage in der Westbank samt Ost-Jerusalem und in Gaza ist diese vermeintliche Ruhe eher verwunderlich. Viele Gesprächsteilnehmer*innen sprachen von einer „Ruhe vor dem Sturm“.
  • Wie schnell solche Spannungen aufbrechen können, belegen die jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg um die Al-Aqsa-Moschee während des Neujahrsfestes, bei denen es zahlreiche Verletzte gab und ein Israeli zu Tode kam.
  • Obwohl in solchen Zwischenfällen ein großes Eskalationspotential liegt, haben sich die Hauptakteure Israel, PA und Hamas mehr oder weniger offen mit dem Status Quo Eine Wiederaufnahme der Nahost-Friedensgespräche ist nach dem Scheitern der Kerry-Mission nicht in Sicht.
  • Weder die Hamas noch die Fatah treiben den innerpalästinensischen Verständigungsprozess ernsthaft voran. Er würde ihre jeweilige Herrschaft im Gazastreifen und in der Westbank in Frage stellen. Deshalb verweigern sie die von der innerpalästinensischen Opposition geforderten Neuwahlen.
  • Die Hamas ist dabei, sich über Katar mit Israel zu arrangieren. Die anhaltende Blockade von Gaza erlaubt es der Hamas zudem, vom eigenen Versagen abzulenken. Dennoch hat sie an Akzeptanz verloren. Es gibt in Gaza zum Beispiel tägliche Demonstrationen gegen die Stromausfälle.
  • Die Lebensverhältnisse in Gaza wurden als unerträglich beschrieben. Der UN-Bericht, wonach Gaza in 5 Jahren nicht mehr bewohnbar sei, wurde von fast allen Gesprächspartner*innen als zu optimistisch bewertet.
  • Auch in der Westbank ist die Akzeptanz für die PA gering. Mit einer Zustimmungsrate von 20 % ist Präsident Abbas allerdings noch der populärste Politiker. Seine zuweilen vorgetragenen Drohungen, die PA aufzulösen oder die Sicherheitspartnerschaft mit den Israelis zu kündigen, wurden allgemein als nicht glaubwürdig angesehen. Entsprechend gering waren die Erwartungen an Abbas Rede vor der diesjährigen Generalversammlung der VN.
  • Ähnlich wie Abbas profitiert auch Benjamin Netanjahu mit einer Unterstützung von 30 % in Umfragen vor allem vom Fehlen einer echten Alternative. Zudem bietet ihm seine Koalition angesichts diverser Entgleisungen von Kabinettsmitgliedern („Ich bin froh Faschistin zu sein“ Miri Regev, Kulturministerin) die Möglichkeit, sich bei grundsätzlicher Übereinstimmung in den Zielen als gemäßigt auszugeben.
  • Die gewählte Rechtsregierung in Israel erfreut sich großer Stabilität. Sie kann sich im Zweifel auf die Stimmen der Jisra’el Beitenu des ehemaligen Außenministers Liebermann Oder sie hat gar, wie beim Entwurf eines Anti-Terrorgesetzes oder der Ablehnung der Atomvereinbarung mit dem Iran, die Unterstützung der größten Oppositionsfraktion, der Zionistischen Union. Die weitere Opposition ist politisch (Meretz) beziehungsweise ethnisch (Joint List) marginalisiert.
  • Unter dem Mantel des scheinbaren Stillstandes geht die Politik des Baus und des Ausbaus der Siedlungen in den besetzten Gebieten immer weiter. Auch wenn aktuell keine neuen Genehmigungen erteilt werden, dürfte allein die Umsetzung der bereits erteilten Genehmigungen eine Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung komplett in Frage stellen.
  • Die anhaltende Siedlungstätigkeit schafft am Boden im Wortsinn Fakten. Fataler aber sind die politischen Folgen einer seit fast 50 Jahren anhaltenden Besatzungspolitik. Diese verwehrt nicht nur den ihr Unterworfenen das Recht auf demokratische Selbstbestimmung. Sie lässt auch demokratische Errungenschaften in Israel selbst erodieren und gefährdet die demokratischen Grundrechte der israelischen Staatsbürger*innen.
  • Menschrechtsverletzungen halten an. Nichtregierungsorganisationen werfen Israel, der Fatah wie der Hamas vor, zu foltern und illegal zu inhaftieren. Nicht nur Siedlungen sondern auch Vertreibungen, Enteignungen und Hauszerstörungen drängen viele Palästinenser*innen jenseits der grünen Linie aus ihren angestammten Wohngebieten.
  • Einen Ausweg aus dieser Lage kann – so die palästinensische Seite wie die Opposition in Israel – nur von außen kommen. Um aus der Ruhe nicht in den Sturm zu geraten, müssten die – politischen wie materiellen – Kosten Israels für die Besatzung erhöht werden, lautete ihre gemeinsame Botschaft. Gefordert wurde von ihnen die schnelle Umsetzung der Richtlinie zur korrekten Kennzeichnung für Produkte aus den besetzten Gebieten, wirksamer Druck zur Aufhebung der Gaza-Blockade oder auch die Einreiseverweigerung für militante Siedler*innen in Europa.
  • Wenn solche Forderungen nicht nur von Palästinenser*innen und arabischen Israelis sondern von Meretz und selbst aus der Arbeitspartei erhoben werden, kommt Deutschland in eine schwierige Situation. Es wird aus historischer Verantwortung nicht das erste Land sein, das mit negativen Anreizen in Europa vorangeht. Es darf aber auch nicht länger gemeinsame Maßnahmen Europas blockieren, die verhindern sollen, dass die von ihm selbst geforderte Zwei-Staaten-Lösung faktisch verunmöglicht wird.
  • „Den schwindenden Chancen für die Verwirklichung einer Zwei-Staaten-Regelung muss dringend aktiv etwas entgegengesetzt werden. Dabei geht es um positive und negative Anreize.“[2] Für die negativen Anreize kann sich der Umstand, dass Deutschland sechs U-Boote nach Israel lieferte, noch als hilfreich erweisen. Die zum Teil geschenkten U-Boote belegen, dass Deutschland seine Verantwortung für die Sicherheit des Staates Israel ernstnimmt. Das gilt aber auch für die Gefahr einer weiteren Erosion der Demokratie durch eine anhaltende Besatzungspolitik.

Ramallah, Ost-Jerusalem

Von allen palästinensischen Gesprächspartner*innen wird betont, es sei für eine Veränderung der Lage zum Positiven notwendig, Druck von außen auf Israel auszuüben. Ohne einen solchen Außendruck werde sich nichts verändern. Konkret müssten die Kosten der Besatzung für Israel erhöht werden. Oft wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Israel in vielfältiger Weise von der Fortsetzung der Besatzung profitiert (Boden, der für landwirtschaftliche Zwecke benutzt wird, Zugang zu Wasser und billigen Arbeitskräften).

Die Skepsis gegenüber der Realisierbarkeit der Zwei-Staaten-Regelung drückt sich z.B. so aus, dass als Ziel das Ende der israelischen Besatzung und Freiheit für die Palästinenser*innen deklariert wird, unabhängig davon, ob das in zwei Staaten oder in einem Staat verwirklicht wird. Die Frage, ob die Perspektive eines Staates realistischer ist, als das bisher nicht realisierte Konzept von zwei Staaten, wird dabei mit blumigen Zitaten umgangen: „Manchmal ist das Unmögliche leichter zu erreichen, als das Schwierige“ (Daniel Barenboim).

Der israelischen Regierung wird vorgeworfen, auf folgende Art und Weise die Grundlagen für eine Zwei-Staaten-Regelung systematisch zu zerstören:

  • Vollständige „Judaisierung“ Jerusalems. Das Ziel sei, im Jahr 2020 nur noch 19% Palästinenser*innen in der Stadt zu haben. Jetzt sind es 40%. In diesem Zusammenhang wird Israel vorgeworfen, Teile der Al-Aqsa-Moschee übernehmen zu wollen, was von israelischer Seite empört zurückgewiesen wird. Dies ist eine Ursache für die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die während unseres Besuches stattfanden.
  • Keine Investitionen und keine Baugenehmigungen für Palästinenser*innen in den C-Gebieten, die 62% der Westbank ausmachen. Durch die fehlende Kontrolle über die C-Gebiete hätten Palästinenser*innen Einkommensverluste von jährlich vier Milliarden $.
  • Kontrolle des Jordantals.
  • Die Politik der Trennung des Gazastreifens von der Westbank.

Verwiesen wird auf 185 offizielle jüdische Siedlungen in der Westbank sowie 222 inoffizielle sogenannte Außenposten. Insgesamt gebe es 651.000 Siedler*innen (inklusive Jerusalem), das seien 21% der Bevölkerung der Westbank.

Von offizieller Seite wird betont, man sei weiterhin für Gewaltfreiheit und die Zwei-Staaten-Regelung. Außerdem wird im Blick auf die vergangenen Verhandlungen darauf verwiesen, dass die palästinensische Seite bereit gewesen wäre, nach einem Friedensschluss Soldat*innen aus jedem von Israel gewünschten Land als dritte Partei in den palästinensischen Gebieten zu akzeptieren, nur eben keine israelischen Soldat*innen.

Die Hoffnung auf eine Fortsetzung von Verhandlungen gibt es, aber sie ist gering. Manche hoffen auf eine neue Initiative von US-Außenminister Kerry, wenn der Vertrag zum iranischen Atomprogramm erst verabschiedet ist. Manche hoffen auf eine Rede von Obama vor der UNO, in der dieser den Staat Palästina anerkennt, nur um hinzuzufügen, dass wohl realistischer sei, dass Obama Vorschläge für die Lösung des Konfliktes machen und die Parteien zur Wiederaufnahme der Verhandlungen auffordern werde. Keine klare Einschätzung gibt es zu der Frage, ob Frankreich an seinem Vorhaben festhalten werde, eine Resolution zum israelisch-palästinensischen Konflikt in den UN-Sicherheitsrat einzubringen. Verwiesen wurde auf ein bevorstehendes Treffen zwischen Abbas und Hollande. Ebenfalls unklar blieb, was die Rede von Präsident Abbas vor der UN-Generalversammlung beinhalten werde.

Mehrfach wird die Hoffnung geäußert, die erfolgreichen Verhandlungen zwischen den E3+3 und dem Iran könnten ein Modell für die Wiederaufnahme von Verhandlungen sein. Dafür müsse es ein Format E3+3 mit Iran, Saudi-Arabien und der Türkei geben.

Die meisten Gesprächspartner*innen beschreiben das Verhältnis zwischen Fatah und Hamas als völlig zerrüttet. Während die offiziell apologetische Lesart lautet, dies sei ein Ausdruck innerpalästinensischer Demokratie, sehen viele Gesprächspartner*innen bei beiden Seiten eine Verantwortung für diese Situation. Zu Spekulationen über Verhandlungen zwischen Israel und Hamas, in die der frühere Beauftragte des Nahost-Quartetts, Tony Blair, involviert sein soll, wird von offizieller Seite in Ramallah geäußert, dies sei gegen das nationale palästinensische Projekt gerichtet. Tony Blair sei nur an Gasgeschäften interessiert.

Ein Gesprächspartner vertrat die Position, dass Hamas nicht frei in seinen Entscheidungen, sondern abhängig von Katar, der Türkei und den Moslembrüdern sei. Für Letztere sei zurzeit Ägypten die Priorität. Katar habe Büros der Taliban, von Hamas und der Muslimbrüderschaft und gleichzeitig einen großen US-Militärstützpunkt. Katar liebe Widersprüche, um Anerkennung zu gewinnen. Hamas spekuliere auf die weitere Annäherung zwischen Katar und Saudi Arabien und werde sich mit Fatah nicht versöhnen.

Die zunächst für die Zeit während unseres Besuches geplante Sitzung des Palästinensischen Nationalrates war wieder abgesagt worden, nachdem klar geworden war, dass die Vorbereitungszeit zu kurz war. Nun soll Ende November 2015 zunächst ein Kongress der Fatah stattfinden und dann im Dezember 2015 der Palästinensische Nationalkongress. Einige Gesprächspartner*innen bezweifeln allerdings, dass diese Planung eingehalten werden kann.

Ein Besuch des Gazastreifens war uns erneut nicht möglich – diesmal mit dem Verweis auf das jüdische Neujahrsfest. Bisher wurde seit dem Ende des letzten Gaza-Krieges im Sommer 2014 keinem Abgeordneten des Deutschen Bundestages von den israelischen Behörden ein Besuch des Gazastreifens gestattet (Journalist*innen und Vertreter*innen von Stiftungen erhalten inzwischen eine Einreisegenehmigung). Die Lage im Gazastreifen wird allgemein als katastrophal beschrieben. Kein Wiederaufbau, kein sauberes Wasser mehr, Strom nur stundenweise. Ohne die enorme gegenseitige Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung wäre die Lage noch unerträglicher. Mit Verweis auf den jüngsten UNCTAD-Bericht, wonach bei Fortdauer der Situation der Gazastreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohnbar sei, meinen zahlreiche Gesprächspartner*innen, der Gazastreifen sei bereits jetzt nicht mehr bewohnbar.

Die während des letzten Gaza-Krieges von Hamas auf offener Straße hingerichteten vermeintlichen Kollaborateure seien keine gewesen, meinte ein Gesprächspartner. Einer der Getöteten sei ein führender Hamas-Mann gewesen, mit dem es Streit gegeben hätte.

In der von der Heinrich Böll Stiftung veranstalteten Diskussion über die aktuelle Flüchtlingskrise in Europa ging es in der Diskussion unter anderem um die Fragen, wie man die Willkommenskultur in Deutschland nachhaltig werden lassen kann und was die Heinrich Böll Stiftung in Deutschland dafür tun kann, welche Möglichkeiten es gibt, Waffenexporte zu unterbinden und welches die wirklichen Gründe für das Verhalten von Bundeskanzlerin Merkel seien.

Angesichts der Lage in der Region findet man nicht nur in Israel, sondern auch in den palästinensischen Autonomiegebieten die Einstellung, verglichen mit vielen Orten der Region gehe es einem selbst ja vergleichsweise gut. In Israel wird dabei auf den Satz des ehemaligen Ministerpräsidenten und Verteidigungsministers Ehud Barak verwiesen: „Israel ist eine Villa im Dschungel.“ In den palästinensischen Autonomiegebieten heißt es, diese seien trotz der Besatzung einer der sichersten Plätze für Palästinenser*innen. Auch die Einschätzung, lieber Assad als Daesh (IS) war zu hören.

Reise Israel Palästina 2015

Menschenrechte

Nach Angaben der palästinensischen Gefangenenhilfsorganisation Addameer befinden sich derzeit 5.700 palästinensische politische Gefangene in israelischer Haft, davon 26 weibliche Gefangene und 350 Gefangene in Administrativhaft, d.h. ohne Anklage und Prozess. Fünf der Administrativhäftlinge befänden sich derzeit im Hungerstreik. Alle Häftlinge seien völkerrechtswidrig in Gefängnissen im Kernland Israels untergebracht.

Die Lage der Gefangenen habe sich verschlechtert. Seit 2012 sei es ihnen nicht mehr erlaubt, Kurse der sogenannten Open University zu belegen, auch die gesundheitliche Betreuung habe sich verschlechtert. Zwar sei die Anwendung von Folter seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofes von 1999 zurückgegangen. Der Gerichtshof habe aber ein Türchen offengelassen, den Fall der sogenannten „ticking bombs“. Heute würden zunehmend Foltermethoden angewendet, die keine Spuren hinterlassen.

Folter gebe es auch auf palästinensischer Seite, allerdings nicht in Gefängnissen, sondern auf den Polizeistationen, vor allem in den Verhörabteilungen und bei der Drogenbekämpfung. Dies sei weitverbreitet, man könne aber nicht von einer systematischen Politik sprechen. Nach dem Beitritt der Palästinensischen Autonomiebehörde zur internationalen Anti-Folter-Konvention seien der Zugang zu Gefängnissen und das Ernstnehmen von Beschwerden besser geworden. Außerdem gebe es nun Regularien und ein Menschenrechts-Training für Sicherheitskräfte. Offiziell gebe es keine politischen Gefangenen. Es gebe aber Gefangene, die letztlich aus politischen Gründen in Haft sind, auch wenn die Anklage auf Geldwäsche, Waffenbesitz oder Anstiftung zum Aufruhr lautet. Oftmals seien die Sicherheitsdienste vor allem an Informationen interessiert und oft würden Personen für zwei Monate inhaftiert, dann freigelassen, nur um nach zwei Tagen erneut verhaftet zu werden.

Im Gazastreifen habe es nach der Machtübernahme der Hamas in den Jahren 2008-2009 weitverbreitet und systematisch die Anwendung von Folter gegeben. Inzwischen sei das zurückgegangen und sei weder verbreitet noch systematisch.

Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem seien in 96% der Untersuchungen zu in der Westbank getöteten Palästinenser*innen die Akten geschlossen worden, ohne dass es zu einer Anklage gekommen sei. Die nächste Runde der Explosion werde kommen, man wisse nur noch nicht genau, wann es passieren werde. Die Politik der Administrativhaft sei eine Bestrafungspolitik und ein israelisches Instrument, um sich in die interne palästinensische Politik einzumischen. Es sei nicht einzusehen, wieso Siedler*innen Visa für Besuche in der EU bekämen. Die korrekte Kennzeichnung von Siedlungsprodukten reiche nicht aus. Die damit verbundene Botschaft sei: „Es ist gestohlen, aber du kannst es kaufen.“ Warum solle die Verantwortung den Konsument*innen auferlegt werden, notwendig sei ein Importverbot. Die EU solle ihre Unterstützung für Israel um den Betrag kürzen, den Israel jährlich aus der fortgesetzten Besatzung der Westbank gewinne. Nach Angaben der Weltbank seien das 3 Milliarden $ pro Jahr, nach palästinensischen Schätzungen 7 Milliarden.

In dem Jerusalemer Vorort Beit Iksa konnten wir uns über die Lebensrealität von Palästinenser*innen in einem Ort informieren, der fast vollständig von der israelischen Sperranlage eingeschlossen ist. Damit ist der früher gegebene und ökonomisch wichtige direkte Zugang nach Ost-Jerusalem faktisch versperrt. Außerdem gaben viele Bewohner*innen mit Jerusalemer Identitätskarte ihre geräumigen Wohnungen in dem Ort auf und zogen in winzige Apartments in Jerusalem, um ihre Jerusalemer Identitätskarten, die ihnen u.a. den Zugang zum israelischen Gesundheitssystem ermöglichen, nicht zu verlieren. Umso erstaunlicher war es, zu sehen, wie eine palästinensische Organisation, die historische Häuser restauriert, den historischen Kern des Ortes wiederherzustellen versucht.

Im Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan konnten wir uns über die Auswirkungen des immer weiteren Vordringens von jüdischen Siedler*innen in die palästinensischen Stadtteile von Jerusalem informieren. Die einhellige Einschätzung war, dass die israelische Politik das Ziel habe, die palästinensischen Gebiete so weit wie möglich zu kontrollieren und so viele Palästinenser*innen wie möglich zum Wegzug zu bewegen.

Im Gespräch mit deutschen Journalist*innen und NGO-Vertreter*innen wurde infrage gestellt, ob die Bundesregierung mit der israelischen Regierung noch einen Partner habe. Solange von deutscher Seite weiterhin mit den Begriffen „Friedensprozess“ und „Zwei-Staaten“ operiert werde, wisse man in Israel, dass kein Druck zu befürchten sei.

Die Voraussetzungen für einen palästinensischen Staat seien auch deshalb schlecht, weil die Gesellschaftsstruktur zerstört sei. Die Menschen drehten sich immer mehr nur um ihre unmittelbare Umgebung mit dem Ziel zu überleben.

Reise Israel Palästina 2015

Jerusalem/Tel Aviv

Ein Abgeordneter des Regierungslagers betonte, dass von jüdischen Israelis verübte Anschläge ernst genommen würden. Viel käme hier auf die Haltung der Öffentlichkeit, des Parlaments und der Regierung an. Für die Sicherheitsbehörden gebe es aber Grenzen, denn sonst würden diese sich ihrerseits Vorwürfen von Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt sehen.

Den Artikel des israelischen Schriftstellers David Grossman zu dem Anschlag in dem palästinensischen Ort Duma, bei dem ein Kleinkind und seine beiden Eltern verbrannten kritisierte er als zu generalisierend. Die meisten der 700.000 Juden, die jenseits der Grünen Linie lebten (inkl. Jerusalem) seien friedliebende Menschen. Angesprochen auf das geplante Gesetz zur Arbeit von Nichtregierungsorganisationen meinte er, dass größere Transparenz ein absolutes Muss sei und dass zwischen sozialen und politischen bzw. politisierten Aktivitäten unterscheiden werden müsse. Er habe jedoch vor fünf Jahren gegen einen Gesetzentwurf gestimmt, der ihm zu extrem erschien. Die Europäer müssten allerdings vorsichtig damit sein, wen sie offiziell oder inoffiziell finanzierten. Einige würden das Konzept der israelischen Demokratie untergraben.

Das Atomabkommen mit dem Iran habe bereits negative Auswirkungen: es habe Angriffe vom Golan auf Israel gegeben, die iranischen Quds-Brigaden seien in Syrien aktiv und der Iran mische sich im Jemen ein. Israel habe Partner in einigen sunnitischen Staaten, die sehr undemokratisch seien. Es gebe aber Situationen, in denen man sich seine Partner nicht aussuchen könne. So habe man etwa mit Saudi Arabien eine engere Partnerschaft als früher, obgleich der israelisch-palästinensische Konflikt nicht gelöst sei.

Die Politik von Obama, den Iran in der Region die Rolle spielen zu lassen, die ihm zustehe, bedeute, das Biest von der Leine zu lassen. Die ultimativ böse Kraft in der Region sei nicht ISIS, sondern der Iran. Er sei auch für Europa gefährlich. Der Iran arbeite an Interkontinentalraketen, für die es in dem Wiener Vertrag keine Begrenzungen gebe. In den nächsten 10 Jahren sei im Iran nicht mit einer Abrüstung zu rechnen, auch wenn die jungen Leute an die Macht kommen sollten. Das Atomabkommen sei eine Bedrohung für die einzige Demokratie im Nahen Osten und für den einzigen wirklichen Verbündeten, den der Westen im Nahen Osten habe.

Eine Antwort auf die Frage, was Israel denn nun tun würde, wo doch das Abkommen in Kraft treten würde, hatte er nicht, außer dem Verweis, die US-amerikanische Bevölkerung sei im Verhältnis 3 zu 1 gegen das Abkommen. Die gleiche Umfrage aber ergab auch, dass die US-Bürger die Frage nicht wirklich für wichtig halten.

Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel sei zu begrüßen, aber Deutschland habe es am Tag zuvor bereits schwieriger gefunden, Flüchtlinge aufzunehmen, als noch in der vergangenen Woche. Israel könne keine palästinensischen Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Jarmuk sei auch kein Flüchtlingslager sondern ein Stadtteil. Die palästinensischen Flüchtlinge hätten längst in die arabischen Staaten integriert werden müssen. Die Vorschläge aus Ramallah zur Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge aus Syrien in die Westbank seien nicht ernsthaft, sondern nur ein weiterer Versuch, Israel vorzuführen. Abbas brauche keine neuen subversiven Elemente – schließlich sei Jarmuk von der Gruppe von Ahmed Jibril kontrolliert worden.

Im israelischen Außenministerium sah man die Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg als von palästinensischer Seite geplante Aktionen an. Es sei kein Zufall, dass dies an jüdischen Feiertagen geschehe. Sobald etwas in Jerusalem geschehe, werde daraus eine internationale Affäre, auch das sei nicht neu. Von israelischer Seite gebe es jedenfalls keine Absichten, am Status Quo etwas zu verändern. Steine auf betende Juden werde man aber nicht zulassen. Steine seien Waffen.

Israel habe keinen Einfluss auf das, was in der arabischen Welt geschehe, schon deshalb nicht, weil jeder israelischer Vorschlag sofort abgelehnt werde. Zudem gebe es heute auch problematische Beziehungen zu den nicht-arabischen Staaten Iran und Türkei.

Was der Iran zu Israel sage, habe sich nicht geändert und seit dem Holocaust glaube man jemandem, der sage, dass er einen vernichten wolle. Der Iran sei nicht nur wegen seines Atomprogrammes problematisch, sondern auch wegen seines Einflusses durch Hisbollah und wegen seiner subversiven Aktionen im ganzen Nahen Osten. Der Irak habe zudem gezeigt, dass der Feind des Feindes nicht der eigene Freund sei.

Man habe damit schon Erfahrung: im Nachhinein seien alle froh gewesen, dass Israel den irakischen Atomreaktor in Osirak bombardiert habe. Israel habe auch vor den Assads gewarnt, aber man sei nicht ernst genug genommen worden, obgleich man die Region besser kenne, als die anderen. Es gebe keine Israelis, die keinen Frieden wollten. Die politischen Unterschiede seien in den unterschiedlichen Antworten auf die Frage begründet, welches Maß an Gefahren Israel auf sich nehmen müsse, um zum Frieden zu gelangen.

Die Siedlerbewegung habe heute mehr Einfluss und es gebe viele, die sagen, eine Zwei-Staaten-Lösung werde es nicht geben. Die Regierung sei aber dafür und laut Umfragen auch eine Mehrheit der Israelis. Zwischen israelischen Ministerpräsidenten und israelischen Außenministern habe es oft Spannungen gegeben, auch wenn beide in derselben Partei waren. Die stellvertretende Außenministerin Tzipi Hotovely mache das, was der amtierende Außenminister Netanyahu wolle. Die Kulturministerin Miri Regev befinde sich in einer Lernkurve und lerne schnell. Sie habe jetzt ein paar Rückzüge gemacht. Bei dem NGO-Gesetz müsse man bedenken, dass es nicht vom Himmel gefallen sei, sondern, dass es tatsächlich problematische NGOs gebe. Wenn man den politischen Sumpf betrete, müsse man sich nicht wundern, dass dort auch Frösche und andere Tiere seien.

Auch die israelischen Oppositionspolitiker*innen und Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen waren sich mehr oder weniger einig darin, dass sich ohne Druck von außen auf die israelische Regierung nichts bewegen werde. Die derzeitige israelische Regierung sei die rechteste, die es je gegeben hätte und sie sei stabiler, als vermutet, unter anderem deswegen, weil die Regierung bei Abstimmungen oft von der oppositionellen Partei Avigdor Liebermans unterstützt werde. Die Lage sei besorgniserregend.

20.000 palästinensische Ehepaare könnten nicht in Israel zusammen leben, weil einer der Partner*innen aus der Westbank stamme. Das bestimme das immer wieder verlängerte sogenannte „Citizenship Law“. Das sogenannte Terror-Gesetz sei in erster Lesung verabschiedet worden, auch mit vielen Stimmen der „Zionist Union“. Es gebe eine immer größere Akzeptanz für rassistische Äußerungen. Netanyahu sei inzwischen ganz offen im Blick auf seine Ablehnung eines palästinensischen Staates.

Die internationale Gemeinschaft schweige, oder sei mit anderen Themen im Nahen Osten beschäftigt. Die EU müsse eine ausgesprochen aktive Politik gegenüber dem Nahen Osten betreiben. Das sei kein Luxus, sondern Eigeninteresse. Stattdessen sei die EU zu passiv und folge der schwachen Politik der USA. Im Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt gebe es nur zwei Optionen: eine Zwei-Staaten-Regelung mit viel Flexibilität oder eine Fortdauer und Eskalation des Konfliktes. Wenn es nicht gelinge, eine Unterscheidung und eine Trennung zwischen dem Kernland Israels und den palästinensischen Gebieten herzustellen, sei man verloren. Aus der EU kämen schöne Worte, aber nur milder Druck in Form der Kennzeichnung von Siedlungsprodukten.

Auch wurde die Position vertreten, die Kennzeichnung von Siedlungsprodukten sei „too little, too late“. Stattdessen müssten die Besatzung und die Siedlungen boykottiert werden, aber nicht Israel als Ganzes, oder etwa seine Universitäten. Wichtig sei auch die Drohung gewesen, Israel aus der FIFA auszuschließen.

Es gebe zwei Fehler: aus historischer Verantwortung eine Unterstützung der israelischen Regierung abzuleiten sowie eine Opposition gegen die israelische Regierungspolitik als eine Politik gegen Israel zu kennzeichnen. Bei den letzten Parlamentswahlen in Israel habe es wenige Veränderungen zwischen den Blöcken gegeben. Die Arbeitspartei habe sich zu wenig in der Peripherie engagiert, die sie für sich faktisch verloren gegeben habe. Außerdem habe sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass zahlreiche Likud-Wähler aus Enttäuschung über Netanyahu nicht zu den Urnen gehen würden, nachdem Netanyahu über Facebook die Meldung verbreitete, linke NGOs würden israelische Palästinenser*innen in Scharen zu den Wahlurnen karren.

 

Gesprächspartner*innen

Mustafa Barghouti, Generalsekretär der “Palestinian National Initiative”

Peter Beerwerth, Leiter des Vertretungsbüros in Ramallah

Rami Hamdallah, Ministerpräsident der Palästinensischen Autonomiebehörde

Muhammed Shtayyeh, Fatah Zentralkomitee

Abdallah Franji, Gouverneur von Gaza

Sahar Francis (Addameer, Prisoner Support and Human Rights Association)

Shawan Jabarin (Al-Haq, Defending Human Rights in Palestine since 1979)

Dr. Ammar Dweik (Independent Commission for Human Rights)

Mr. Mijim Tamimi (Nabi Saleh)

Vertreter von UN- OCHA – Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – occupied Palestinian territory

Vertreter von Riwaq, Centre for Architectural Conservation

Jawwad Siyam, Wadi Hilweh Centre Jerusalem

Riad Othman, Landesdirektor medico international

Hans-Christian Rößler, FAZ

Torsten Teichmann, ARD Hörfunk

Inge Günther, FR

Alia Rayyan, Direktorin Al-Hoash Gallery

Nicola Albrecht, ZDF

Benny Begin, Mitglied der Knesset (Likud)

Aviv Shir-On, Israelisches Außenministerium, Deputy Director General for European Affairs

Ilan Mor, Israelisches Außenministerium

Aida Touma-Sliman, Mitglied der Knesset (Joint List)

Dr. Clemens von Goetze, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel

Dov Khenin, Mitglied der Knesset (Joint List)

Dr. Yossi Yonah, Mitglied der Knesset (Zionist Union)

Akiva Eldar, Journalist (Al-Monitor)

Prof. Dan Jacobson, NGO-Forum

 

[1]              Wir haben versucht, auch Gaza zu besuchen. Dieses wurde uns von israelischer Seite verwehrt. Damit ist es auch ein Jahr nach dem Gaza-Krieg noch keinem Bundestagsabgeordneten möglich gewesen, das Gebiet zu besuchen – anders als dem deutschen Außenminister.

[2]              Beschluss des Grünen-Bundesvorstandes vom 01./02.09.15

Verwandte Artikel

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld

1 Kommentar

  1. Detlef Müller

    Danke für den ausführlichen Bericht, der die schwierige Komplexität der dortigen Lage und Verhaltensformen sichtbar macht. Sich dem zu stellen, wie es ist, ist schon nicht leicht. „Lösungen“ zu bestimmen noch viel schwerer. Ich verfolge die Entwicklung seit 1990 näher und habe immer weniger konkrete Antworten. War eigentlich auch MdB Mutlu in der Delegation?
    Herzl. Gruß von D. Müller, B90/Grüne Berlin

    Antworten