Warum Europa auf eigene Stärke setzen muss
In der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Brüssel diskutierte ich am 15.05.25 mit Almut Möller, Delphine Pronk und David McAllister auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung die Rolle Europas in der neuen Weltordnung. Dies waren meine Thesen dazu:
In Russland wie China zeigt sich: Handel schafft nicht politischen Wandel. Als vor einigen Jahren die Europäische Union eine neue Chinastrategie erarbeitete, stand der Dreiklang Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale im Mittelpunkt. Dieser fand Eingang in die von Annalena Baerbock erarbeitete deutsche Chinastrategie. In fast jeder Frage der Beziehungen zwischen der EU und China finden sich diese drei Elemente, ob bei Handel, Industrie- oder Klimapolitik. Europa und China profitieren von Kooperationen. Sie streiten in einem harten, oft unfairen Wettbewerb miteinander. Und sie rivalisieren über unterschiedliche Gesellschaftsmodelle. Global geht es um den Wettstreit zwischen Demokratischen Kapitalismus1 und einem zunehmend Autoritären Staatskapitalismus.
Über 40 Jahre Kalter Krieg, über 30 Jahre nach dem Fall der Mauer waren die USA und Europa in transatlantischer Freundschaft verbunden. EU und USA waren Partner und Wettbewerber in Sicherheitsfragen – mit ungleicher Lastenverteilung, aber 80 % der europäischen Rüstungsinvestitionen landeten in den USA. Sicher, es gab auch Konflikte in der Partnerschaft – etwa über den Angriffskrieg gegen den Irak. Aber EU und USA waren Partner im Handel und im Streben nach offenen Märkten und Rechtssicherheit. Mit Konflikten über die Agrar- und Luftfahrtsubventionen des anderen, über Zölle und nichttariffähre Handelshemmnisse. Im Großen und Ganzen überwogen für beide Seiten die Vorteile die Nickligkeiten unter den Wettbewerbern. Dieser transatlantische Honeymoon ist zu Ende.
Trump hat nicht nur die Sicherheitspartnerschaft mit Europa aufgekündigt. Er bedroht die territoriale Integrität Europas in Grönland (wie in Kanada und Panama). Er hat einen Handels- und Wirtschaftskrieg vom Zaun gebrochen, bei dem die Europäische Union einer seiner erklärten Hauptfeinde ist. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärt sein Vize JD Vance Gewaltenteilung und Judikative in Europa zur größten Bedrohung der Demokratie. Vance und Musk unterstützen offen Faschisten in Europa von der AfD bis zu Viktor Orban. Innerhalb der USA werden Institutionen ohne gesetzliche Grundlager zerschlagen und Gerichtsurteile missachtet. Die USA sind nicht länger nur Partner und Wettbewerber Europas. Sie wollen Europa spalten. Sie sind zu einem systemischen Rivalen geworden. Das Mutterland der Demokratie ist auf dem Weg in einen Autoritären Oligarchismus in dem weder Demokratie noch Marktwirtschaft einen Platz haben sollen.
Wenn China und die USA für Europa Partner, Wettbewerber und unterschiedliche systemische Rivalen sind, ergibt sich für die EU eine neue geostrategische Lage. Entweder Europa wird in einer multipolaren Welt zu einem eigenen Pol – oder es muss sich einem der Pole einer neuen Bipolarität unterordnen. In dieser Welt hat Europa keine Zeit zum Schattenboxen. Bei aller systemischen Unterschiedlichkeit, China und die USA unter Trump eint das von Carl Schmitt entwickelte Verständnis eines eigenen „Großraum“ – sei es im Südchinesischen Meer, sie es in Kanada und oder Grönland. In diesem müsse die Souveränität von Nationen zurücktreten. Einem Schattenboxer Europa droht die Schnellverzwergung. Zeit für Krafttraining.
Wenn hier China und die USA in einem Atem genannt werden, behauptet das keine Äquidistanz. Die Distanzen sind in einzelnen Politikfeldern unterschiedlich. Mein langjähriger Kollege im Auswärtigen Ausschuss und in der Parlamentarischen Versammlung der NATO, Johann Wadephuhl, hat das Konzept seiner Politik als Außenminister so beschrieben: „Ich spreche von einer sicherheits-, interessen- und wirtschaftsgeleiteten Außenpolitik“. Ihm sei daran gelegen, „angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Realitäten und Krisen weltweit eine grundnüchterne Prioritätensetzung vorzunehmen“.2
Ich will dem gar nicht widersprechen. sondern Wadepfuhls Vorgabe anwenden. Nehmen wir die wirtschaftlichen Interessen Europas ernst, so sind sowohl China wie die EU an offenen Märkten und einem florierenden Welthandel interessiert. Die USA setzen auf Abschottung und Zölle. EU wie China sind beide massiv auf Energieimporte angewiesen. Diese Abhängigkeit limitiert ihre Souveränität. Erneuerbare Energien auszubauen, die eigene Industrie zu dekarbonisieren, ist ein gemeinsames Interesse – jenseits des Klimaschutzes. Die USA wollen die Welt in Abhängigkeit von fossilen Energien halten, die sie exportieren. Trump hat den Ausbau der Windenergie per Dekret gestoppt. Eine „interessen- und wirtschaftsgeleitete Außenpolitik“ muss „grundnüchtern“ (Wadephul) eine Priorität auf eine energiepolitische Zusammenarbeit mit China gegen die USA setzen.
Der Streit um die Äquidistanz zwischen China und den USA lenkt aber vom eigentlichen Problem ab. Wir sollten gar nicht in die Situation kommen, zwischen den beiden, zwischen Pest und Cholera wählen zu müssen. Europa muss auf eigene Stärke setzen. Und diese Stärke dann auch auf den Boden bringen.
Der größte Binnenmarkt der Welt muss sich – was seine Softpower angeht – nicht verstecken. Doch diese Softpower muss europäisch gedacht und eingesetzt werden. Deutschlands Autoindustrie hat nur eine Perspektive als europäische – aber das gilt auch für den Softwarestandort Irland.
Bei der Hardpower hat Europa massiven Nachholbedarf. Inzwischen geben alle Robert Habeck recht, dass wir 3,5 % unseres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben müssen. Billiger wird es nicht – insbesondere wenn dies mit dem Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie einhergeht und wir nicht einfach in den USA schoppen gehen wie mit dem deutschen 100 Mrd. € Sondervermögen. Doch es ist nicht nur eine Frage des Geldes. Europa muss sich neue Fähigkeiten zulegen – von der Satellitenaufklärung über Luftabwehr bis zu Drohnen.
Europäische Resilienz heißt zudem, strategische Industrien und Wertschöpfungsketten zu halten oder zurückzuholen, von Pharma über PV bis zu Batterietechnologie. Dort dürfen wir nicht ausschließlich von China abhängig sein.
Wenn man die Möglichkeit einer Fernabschaltung von 19 chinesischen Windturbinen als Risiko für unsere Infrastruktur ansieht, wie können wir die Bilder von Polizei-Bodycams weiter auf Servern von Amazon und die geheimsten Daten der Bundeswehr in der Microsoft-Cloud speichern? Wer glaubt denn, dass ein Serverstandort im Besitz amerikanischer Firmen in Europa ausreichend vor einem Zugriff von US-Behörden schützt? Die USA zwingen aktuell ein europäisches Unternehmen wie SAP dazu, Abschied von Diversität und Gleichberechtigung zu nehmen. Wir brauchen nicht nur wirksame Anti-Coercion Maßnahmen. Der Aufbau einer europäischen Cloud-Infrastruktur ist essenziell. Erst wenn ganz Europa wie Schleswig-Holstein ist – nämlich Open Source – werden wir so etwas haben wie digitale Souveränität.
Europa hat sich unter hohen Kosten aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu befreit – bei Uran ist das immer noch nicht gelungen. Doch warum sollen wir uns – um Zölle zu mindern – nun wieder in die Abhängigkeit von US-Frackinggas begeben? Dekarbonisierung stärkt die energiepolitische Souveränität Europas. Nicht Reiches Rückfall zu Gas, sondern der beschleunigte Ausbau Erneuerbaren, von Netzen, von Batteriespeichern und einer Wasserstoffinfrastruktur ist das Gebot der Stunde.
Die Anstrengungen der Kommission, den Green Deal rück abzuwickeln, weisen in die falsche Richtung. Wer Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum stellt, darf den Druck auf Europas Autoindustrie, konkurrenzfähige E-Autos zu bauen, nicht mindern. Und wer sich um ein Level Playing Field für Europas Unternehmen sorgt, darf nicht Kostendumping durch Aufhebung des Lieferkettengesetzes betreiben. Davon profitieren dann vor allem chinesische Unternehmen.
In der multipolaren Welt braucht Europa Verbündete. Es gibt viele, große wie kleine Staaten, die nicht in einer bipolaren Welt aufwachen wollen, in Asien, in Lateinamerika, in Afrika. Handel schafft nicht Wandel, aber Verbindungen. Wer Lateinamerika nicht den Chinesen überlassen will, muss endlich MERCOSUR ratifizieren. Oder wollen wir die Torheit wiederholen, gegen CETA zu wettern – um uns vier Jahre später geschmeichelt zu fühlen, weil Kanada diskutiert, zur EU zu gehören. CETA wie MERCOSUR sind die konkreten Antworten auf die Herausforderungen einer multipolaren Welt. Blicken wir auf Kanada, Brasilien, Südafrika, Japan, Ozeanien oder Südkorea handelt es sich bei all diesen Ländern um Partner und Wettbewerber, aber nicht um systemische Rivalen. Es sind alles Gesellschaften des demokratischen Kapitalismus. Früher hätte wir von Wertpartnern gesprochen.
1 Ich verwende diesen Begriff, weil er die Gesellschaftsformationen, die aus der Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft beruhen, präzise beschreibt und nicht geografisch (West gegen Ost) und nicht postkolonial (Süd gegen Nord) auflädt. Vergl. Wolfgang Streeck, Die gekaufte Zeit, Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt 2013
2 https://taz.de/Abkehr-von-feministischer-Aussenpolitik/!6087409/