Die Hegemonie der linken Mitte
Wie die linke Mitte wieder die Hegemonie in der Gesellschaft zurückerobern kann. Darüber habe ich mit Gesine Schwan und Dietmar Bartsch bei der Johannes Rau Gesellschaft diskutiert. Statt strukturkonservativer Statusverteidigung gilt es, den Kampf um ein besseres Leben zu führen.
Meine Keynote dazu:
Lieber Christoph Zöpel,
Lieber Rainer,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Freundinnen und Freunde
Genossinnen und Genossen
Danke für die Einladung.
1 Rechte Mehrheiten global
Wir wollen heute darüber sprechen, wie die Parteien links der Mitte wieder eine Mehrheit organisieren können. Dazu gehört es, sich ehrlich zu machen.
Seit zwanzig Jahren gibt es eine rechte Mehrheit in Deutschland. Und sie wächst.
2025 gewannen Parteien rechts der Mitte fast 54 % der Wählenden. Die linke Mitte aus SPD, Grünen und Linken kam auf nicht einmal 37 %. Nur wenn wir das BSW als links einstufen, wären es mehr als 40 % gewesen.
Das letzte Mal, dass es eine rechnerische Mehrheit links der Mitte gab, war 2005. Schlimmer noch, das letzte Mal, dass aus einer linken Mehrheit unter den Wählenden eine politische Mehrheit wurde, war 2002.1
Die linke Mitte ist nicht nur unattraktiv, sie hat auch kein Angebot für eine andere Mehrheit gemacht.
Parteien der linken Mitte konkurrieren miteinander. Früher gab es mit der SPD eine klare Dominante. Heute spielen SPD, Grünen und Linke in der gleichen Liga – mal liegen die einen, mal die anderen vorne. Die Herausforderung wird sein, wie aus diesem Konkurrenzkampf eine Mehrheit links der Mitte zu organisieren ist.
Die Rechtsverschiebung ist kein deutsches Phänomen. In Europa, ja global, droht der Demokratie Gefahr von rechts.
Anfangs wurden rassistische Parteien in Skandinavien und den Niederlanden von Konservativen an Regierungen beteiligt. Heute hat Italien mit Georgia Meloni eine bekennende Faschistin als Regierungschefin. In Ungarn baut Viktor Orban Gesellschaft und Wirtschaft zu einer korrupten Autokratie um. Im politisch blockierten Frankreich hofft Marine Le Pen Präsidentin zu werden. Einzig in Polen ist es bisher gelungen, die Mehrheit der rechten PIS wieder zu brechen – ohne dass dies die Spaltung und die Blockade im Land überwunden hätte.
Im EU-Parlament haben Mitte-Links-Parteien gerade mal ein Drittel der Sitze gegenüber einer klaren Mehrheit aus Konservativen, Liberalen, Nationalisten und Faschisten. Inzwischen ist Pedro Sanchez in Spanien der einzige Mitte-Links Regierungschef der EU – außer wir rechnen Mette Fredericksen zur linken Mitte. Dann sind es zwei.
Jenseits des Atlantiks baut Donald Trump das Mutterland der Demokratie systematisch zu einer autoritären Autokratie um. Massendeportation aufgrund ethnischer Herkunft gehören ebenso dazu, wie die Vorbereitung eines Bürgerkriegs. Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit werden massiv bedroht. Es sind faschistische Methoden.
Alle diese Entwicklungen beruhen auf Mehrheiten. Donald Trump ist der erste Republikaner, der seit Langem das popular vote gewonnen hat.
Der Autoritarismus ist global im Aufwind.
Offensichtlich hat die linke Mitte die Hegemonie im demokratischen Kapitalismus verloren.
2 Von neoliberal zu libertär
Der Hegemonieverlust begann nicht 2015, als sich Angela Merkel und Sigmar Gabriel weigerten, auf Flüchtlinge schießen zu lassen.
Die linke Mitte verlor ihre Mehrheit mit der Finanzkrise 2008.
Unmittelbar nach dem Lehmann-Crash errangen Union und FDP in Deutschland eine Mehrheit. Das Ende des Neoliberalismus führte nicht zur Rückkehr zu Keynes und Ehrhard – nicht zurück zu einem sozial gebändigten Kapitalismus.
Im Gegenteil. Es kam etwas Schlimmeres.
Der Neoliberalismus eskalierte zum Libertären.
Statt Friedrich August von Hayek kamen Peter Thiel und Elon Musk. Beide sind gegen die Demokratie, beide hassen Marktwirtschaft. Thiel und Musk haben den Neoliberalismus zu Ende gedacht. Am Ende jedes unregulierten Marktes steht ein Monopol – weil zuvor alle Wettbewerber der „schöpferischen Zerstörung“ (Josef Schumpeter) anheimgefallen sind.
Die Absicherung der Macht ihrer Monopole ist das Kernanliegen für Thiel und Musk. Dafür wollen sie die amerikanische Demokratie in eine von Ihnen gesteuerte Oligarchie überführen.
Die Libertären haben nichts gegen den Staat – solange es ihrer ist.
3 Gerechtigkeit in Schäbigkeit
Wie konnte es so weit kommen?
Die Menschen In den Staaten des demokratischen Kapitalismus waren seit dem 2. Weltkrieg der Überzeugung, dass es künftigen Generationen besser gehen werde. Das Aufstiegsversprechen war Grundlage der Bildungsreform von Willy Brandt und des europäischen Sozialstaates. Es galt ebenso für das angelsächsische Reichtumsversprechen. In den USA wie Großbritannien wurde der Aufstieg der Kinder über private Verschuldung organisiert. Die Wertsteigerung des eigenen Hauses finanzierte ihr Studium.
Mit der Lehman-Krise scheiterte der weltweit 60 Jahre geltender Gesellschaftsvertrag.
Das Versprechen des Aufstiegs wurde nicht länger geglaubt.
Das Ende des Neoliberalismus war nicht das Ende des Kapitalismus. Die linke Mitte hatte die Verheerungen von drei Jahrzehnten neoliberaler Ideologie unterschätzt. Es waren nicht nur die Banken desavouiert. Auch die Legitimation des Sozialstaates hatte die Dauerrede von Markt statt Staat massiv untergraben. Sozialdemokraten und Grüne hatten dazu durch „Reformen“ wie Hartz 4 in Deutschland selbst aktiv beigetragen.
Das Scheitern des Aufstiegsversprechens hat den Grundkonsens in den Gesellschaften des demokratischen Kapitalismus radikal verschoben. An die Stelle des alten Konsenses trat ein neuer Begriff sozialer Gerechtigkeit.
Nicht Teilhabe, sondern Ausschluss definiert die neue Gerechtigkeit.
Gerecht ist, wenn es anderen schlechter geht als mir.
Die neue Gerechtigkeit ist schäbig. Man – und das ist mit Absicht nicht gegendert – definiert sich nicht über den Anspruch nach oben, sondern über den Abstand nach unten. Es geht nicht länger um Aufstieg, sondern um Statussicherung.
Man definiert seinen Status über die, die unter einem zu stehen haben: Schwarze, Frauen, Veganer. Die Verteidigung des Status mündet in einer negativen Utopie, einer Verklärung des Gestern. Sie führt direkt in einen Kulturkampf gegen die „Feinde“ des eigenen Status.
Statussicherung durch Nostalgie ist nicht rational – aber emotional.
Und sie funktioniert. Es hat bei der Migration funktioniert. Ohne Migration droht Wohlstandsverlust. Trotzdem sind breite Mehrheiten für eine Begrenzung der Migration.
Den selben Mechanismus bedient der Kulturkampf gegen Erneuerbare und Klimaschutz. Die Antwort darauf kann nicht sein, noch einmal die physikalischen Fakten zur Klimakrise herunter zu beten.
Gegen Fake-News helfen keine Fakten.
„Wie können das Fake-News sein, wenn es genau das ist, was ich glaube?“ Das war die Antwort ihres Vaters, nachdem eine taz-Redakteurin alle seine Behauptungen widerlegt hatte.
Die Verteidigung der Demokratie braucht eine andere Erzählung.
4 Leitbild vom besseren Leben
Will die linke Mitte wieder Hegemonie erringen, muss sie ihr Narrativ grundlegend ändern. Es reicht nicht, an das Interesse aller und die Kraft der Vernunft und das Allgemeinwohl zu appellieren.
Sieben Ratschläge dazu:
4.1 Wir sind nicht die Guten.
Andere greifen uns an. Polarisieren. Wir mobilisieren dagegen. „When they go low, we go high“ – dieser Rat von Michelle Obama ist falsch. Er hat Trump nicht verhindern können.
Wenn Rechte uns angreifen, schlagen wir nicht unter die Gürtellinie. Aber wir stehen ihnen auf den Füßen. Wir treffen bei Spielen des Balles auch mal ihre Knie.
Wir sind keine Opfer.
4.2 Wir predigen keine Moral
Wir stehen für eine wertebasierte Politik. Wertebasierte Politik muss ich gegen andere Interessen durchsetzen. Damit Menschen sich solidarisch verhalten können, müssen wir die politischen Rahmenbedingungen schaffen.
Es ist klug, Importe von Futtermitteln von abgeholzten Regenwäldern mit Abgaben zu belegen und den Drogenhandel im Stall zu beenden. Das verteuert Fleisch aus Massentierhaltung. Es ist töricht, stattdessen einen symbolischen Veggieday auszurufen.
Wir wollen Strukturen verändern.
4.3 Wir sind nicht strukturkonservativ.
Die Zukunft Brandenburgs liegt nicht in der PCK-Raffinerie von Schwedt und sie findet sich nicht in der Lausitzer Braunkohle. Es ist falsch, diese Bilder zu bedienen und so AfD-Narrative zu bestätigen. Nichts anderes war die Kampagne der SPD in Potsdam gegen Noosha Aubel unter dem Motto „Gegen grüne Experimente“ für die sich mein geschätzte Kollege Matthias Platzeck nicht zu schade war.
Es gilt, Transformation gerecht zu gestalten, nicht sie zu verzögern. Wer Transformation in die Länge zieht, verteuert sie.
Die linke Mitte muss mit dem Strukturkonservatismus brechen.
4.4 Wir setzen auf den Vorteil
Brandenburg hat von der Transformation profitiert. Die höchsten Haushaltseinkommen des Ostens haben drei Ursachen: Berlin, der Boom erneuerbarer Energien und Tesla. Darüber muss gesprochen werden.
Umgekehrt ist der Verzicht auf Transformation keine Sünde. Er ist blöd. Eine Wärmepumpe liefert dreieinhalb mal so viel Wärme, wie dafür Strom verbraucht wird. Mit Windrädern und Solaranlagen kann man Geld verdienen und Geld sparen.
Es geht uns um ein besseres Leben – nicht um Verteidigung des schlechten.
4.5 Wir schweigen nicht zu Kosten – und verteilen sie gerecht
Transformation hat viele Vorteile. In Transformation aber muss investiert werden. Die Kosten dafür müssen aufgebracht werden. Dazu darf nicht geschwiegen werden.
Die Kosten der Transformation müssen gerecht verteilt werden. Wer mehr zur Klimakrise beiträgt, muss auch mehr zahlen. Wer wenig dazu beiträgt, zahlt weniger. Das ist die Idee des Klimageldes.
Wir wollen die Umverteilung beenden. Damit nicht weiter zulasten der Arbeitseinkommen umverteilt wird, bedarf es einer Vermögenssteuer – und dem Erbe für alle.
Von Steuergerechtigkeit muss mensch was haben.
4.6 Wir wollen regieren, um zu verändern.
Es ist nicht Gott gewollt, dass die Rechte regiert. Und es ist nicht ihre wahre Bestimmung, dass die Linke opponiert.
Deshalb haben Slogans wie „Alle wollen regieren – wir wollen verändern“ keinen Platz mehr. Das sind die Eierschalen eines verbalen Linksradikalismus. Wir wollen regieren. Dafür brauchen wir andere Mehrheiten. Und wenn wir sie haben, nutzen wir sie.
Wir stellen die Machtfrage – mit Macht.
4.7 Wir verteidigen die Demokratie.
Wer die Diktatur der Mehrheit über das Recht etablieren will, ist ein Faschist. Faschisten sind unsere Feinde. Sie müssen mit den Instrumenten des Rechts bekämpft werden. Dazu gehört auch ein AfD-Verbot.
Faschisten bekämpft man nicht, indem man ihren Themen hinterherrennt. Es macht sie stärker. Es zerstört demokratische Parteien.
Wir wollen linke Mehrheiten. Zur Verteidigung der Demokratie müssen Parteien der linken Mitte aber bereit sein, auch lagerübergreifende Koalitionen einzugehen. Das ist kein Grund für Vorwürfe untereinander.
Wir dürfen Antidemokraten keine Macht übertragen. Niemals.
5 Hegemonie der linken Mitte
Hegemonie wird die linke Mitte nur bekommen, wenn sie als gerechte machtpolitische Alternative angesehen wird.
Gerechtigkeit definieren die hier Anwesenden unterschiedlich. Meine lautet:
Ökologie ist globale Gerechtigkeit für heutige und künftige Generationen. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf die gleichen Lebenschancen.
Ökologie ist unvereinbar mit jeder Ideologie ethnischer, nationaler oder sozialer Überlegenheit.
1 rechts links
2025 53,7 36,8 (4,9 BSW)
2021 47,0 45,8
2017 51,2 38,6
2013 51,0 42,7
2009 48,4 45,6
2005 45,0 51,0
2002 45,9 : 50,1