Die Zeitenwende, die die Bundeswehr seit 2022 durchlebt ist nicht die erste. Im Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft gab es in den vergangenen 40 Jahren eine ganze Reihe von Zeitenwenden. Im Rahmen einer Politischen Bildung des Bundeswehr warf ich am 04. Mai in Duderstadt einen Blick darauf.
Die Bundeswehr durchlebte in den vergangenen 40 Jahren gleich mehrere Zeitwenden – nicht nur die 2022 ausgerufene. Die alte bipolare Welt und der kalte Atomkrieg endete 1990. Das Ende des Kalten Krieges öffnete Räume der Demokratie und des Rechts. Hierfür steht die Hinwendung zum demokratischen Kapitalismus, zu EU und NATO in Osteuropa. Aber auch die Überwindung der Diktaturen im südlichen Afrika wie in Lateinamerika waren möglich. In Folge dieser Entwicklung wurde global, atomar wie konventionell, abgerüstet. Die Bundeswehr halbiert.
Die blutige Niederschlagung demokratischer Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ließ damals schon die Ahnung aufkommen, dass das Ende des Kalten Kriegens nicht das Ende der Geschichte war. Es zeichneten sich bereits 1989 die Umrisse einer neuen systemischen Rivalität zwischen den Staaten des demokratischen Kapitalismus und einem neuen autoritären Staatskapitalismus ab.
Mit dem Ende der alten Blockkonfrontation kehrte der Krieg nach Europa zurück. Die Kriege im zerfallenden Jugoslawien ebenso wie zerfallende Staaten im Globalen Süden erzwangen eine Neubestimmung der Aufgaben der Bundeswehr. Landes- und Bündnisverteidigung wurden nachrangig. Im Mittelpunkt stand die Fähigkeit zur Intervention in Out-of-area Einätzen. 10.000 Personen sollten dafür dauerhaft bereitstehen. Und darauf wurde die Ausrüstung ausgerichtet.
Die Grünen haben diese Umorientierung zögerlich, dann aber konsequent mitgetragen. Bereits Mitte der 1990er Jahre beschlossen sie, Bundeswehreinsätze unter dem Mandat der Vereinten Nationen zu befürworten. Mit ihrer Regierungsbeteiligung ab 1998 verantworteten sie den Krieg im Kosovo ebenso wie die auf UN-Resolutionen und dem Artikel 5 NATO-Vertrag beruhende Intervention in Afghanistan.
Dieser NATO-Einsatz – geführt von der stärksten Militärmacht der Welt – scheiterte nach 20 Jahren. Doch nicht nur in Afghanistan waren Interventionen erfolglos. Die spektakulär gescheiterten Kriege der USA und Großbritanniens im Irak und von Frankreich und Großbritannien in Libyen – klugerweise ohne deutsche Beteiligung – zerstörten die Akzeptanz solcher Einsätze in der internationalen Staatengemeinschaft. Zudem ging die Bereitschaft der Bevölkerung in Europa und den USA für solche Interventionen auf Null. Einsätze zur Friedenssicherung, gegen Staatszerfall spielen heute kaum noch eine Rolle. Der humanitäre Interventionismus ist unter anderem an westlicher Hybris und Doppelmoral gescheitert.
Die mit Ausnahmezustand und Tschetschenienkrieg begonnene revisionistische Herrschaft Putins zielt auf ein neues Großrussland. Er griff in Georgien und mit der Annexion der Krim 2014 gewaltsam den Kern der Friedensordnung und der Sicherheitsarchitektur Europas an. Spätestens mit dem Krieg Putins gegen die Ukraine ist klar: Bündnis- und Landesverteidigung, Abschreckung und Kriegsfähigkeit sind die neuen Herausforderungen für die Bundeswehr. Dafür müssen die Ausrüstungsdefizite und die Fähigkeitslücken von Luftabwehr bis zu Drohnen beseitigt werden. Es geht um Aufrüstung.
Russland Krieg in der Ukraine ebenso wie die Entwicklung China widerlegte die naive Idee vom Handel schafft Wandel. Kapitalismus führt nicht automatisch zu Demokratie und Handel nicht von selbst zu Frieden. Demokratie muss vermehrt gegen faschistische Bewegungen und Parteien verteidigt werden. Das demokratische Europa steht heute nicht nur in einer systemischen Rivalität mit dem chinesischen oder russischen Staatskapitalismus. Es muss sich auch gegen einen autoritären Oligarchismus in den USA, dem einstigen Mutterland der Demokratie, rüsten.
Wer hätte gedacht, dass die Beistandsklausel der Europäischen Union einmal in einen Konflikt zu Artikel 5 NATO-Vertrag geraten könnte, weil das NATO-Mitglied USA sich Grönland aneignen möchte. Wer hätte gedacht, dass Kanada einmal ernsthaft diskutiert, Mitglied der EU zu werden, um nicht vom Trump annektiert zu werden? Deshalb muss die politische und wirtschaftliche Souveränität Europas gestärkt werden. Dies gilt nicht nur für die ökonomische Resilienz, sondern auch für die Beschaffung notwendiger Rüstungsgüter und dem Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie.
Das Ende der Bipolarität hat nicht in eine multilaterale Weltordnung und unter der Herrschaft des Rechts geführt. Wir leben in einer multipolaren Weltordnung, in der Stärke Recht setzt. Europa muss seine eigene Stärke entwickeln – und dabei kluge Bündnisse schließen. Die demokratischen BRICS-Staaten wie weite Teile Asiens haben wie die EU kein Interesse daran, zwischen Pest und Cholera, zwischen China und den USA wählen zu müssen. Dafür bedarf eines souveränen Europa und einer fähigen Bundeswehr im europäischen Verbund.