Vom Ende des Westens in einer multipolaren Welt

Thesen für eine wertebasierte Realpolitik

 

 

  1. Die bipolare Welt ist seit einem Vierteljahrhundert Vergangenheit. Die unipolare Welt war überdehnt bevor sie richtig angefangen hat. Der Aufbau einer unilateralen US-Weltordnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist gescheitert. Über deutlich wurde das mit dem gescheiterten Irak-Krieg. Die Destabilisierung nicht nur des Mittleren Ostens war die Folge – sowie ein gravierender Verlust globaler Ordnung.
  2. Sichtbarster Ausdruck für die neue multipolare Welt ist der Aufstieg Chinas. China drängt mit Macht auf die Weltbühne. Seit 2010 hat China seine Investitionen in Europa um 1.500 Prozent gesteigert. Doch auch Indien und Brasilien entwickeln regionale bis globale Ambitionen.
  3. In der neuen multipolaren Welt folgt die Politik stärker der Ökonomie. Trump zieht jetzt seine Konsequenz aus der Überdehnung: ein aggressiver Wirtschaftsnationalismus gepaart mit unilateraler Außenpolitik. Mit den US-Schutzzöllen hat er einen Handelskrieg eingeleitet. China nutzt Handel und Investitionen für seine geostrategische Ausdehnung – und gibt sich gleichzeitig einen multilateralen Anstrich.
  4. Klimawandel, Ungleichheit, Ressourcenkonkurrenz und Bad Governance sind die Treiber für Kriege neuen Typs. Die Verschiebungen auf den Weltenergiemärkten – weg vom Mittleren Osten hin zur Energieautarkie Nordamerikas – haben im Mittleren Osten ebenso ein Machtvakuum entstehen lassen, wie der Kampf um knappe Ressourcen Afrika destabilisiert. Die aus dem Zerfall von Staaten entstehenden Kriege neuen Typs kennen keine Guten – und häufig „no victors, no vanquished“ (Obama). Wenn sie denn enden, dann nur mit einer Verhandlungslösung.
  5. Den politischen Westen gibt es nicht mehr. Das Scheitern des G7-Gipels markiert dies. Als eine der Universalität der Menschenrechte verpflichtete Wertegemeinschaft hat es den Westen mindestens seit Vietnam und Chile nicht gegeben. Mit dem Angriffskrieg der USA auf den Irak wurde dies nochmal deutlich. Der Regimechange in Libyen ebenso wie die Unterstützung des irakischen Giftgaskrieges gegen den Iran beschädigten die Glaubwürdigkeit Europas. Sie limitieren bis heute seine Handlungsfähigkeit. Zusammengehalten wurden Europa und die USA lange durch gemeinsame Interessen – nicht Werte. Doch diese Interessengemeinschaft hat Trump aufgekündigt.
  6. Eine neue Ordnung erfordert neue Allianzen. Neue Allianzen beruhen auf gemeinsamen Interessen. Wenn es keine strategischen Verbündeten mehr gibt, macht es keinen Sinn auf die Rezepte aus der Bipolarität zurück zu greifen. Weder Kalter Krieg noch Neo-Entspannungspolitik gegenüber Russland helfen. Die neue globale Ordnung wird sich über fallweise Interessenskoalitionen herstellen. Mit China und Russland gegen die USA im Iran, mit den USA gegen diskriminierenden Marktzugang in China. Mit den ASEAN-Staaten gegen eine regionale Dominanz Chinas in Südostasien und mit China gegen die US-Schutzzölle. Diese fallweisen Koalitionen brauchen einen Fixstern: das Völkerrecht und internationale Verträge.
  7. Europa ist ein Pol – Deutschland nicht. In einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt kommt es auf das Gewicht an. In der multipolaren Welt kann deutsche Außenpolitik nur europäisch wirken. Dafür muss Europa „weltpolitikfähig werden“ (Juncker). Ein Schritt wäre: Weg vom Einstimmigkeitsprinzip hin zu Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Die Europäische Union muss ihre zivilen und zivil-militärischen Fähigkeiten ausbauen.
  8. Europa muss seine Krise überwinden. Die politische Krise ist primär ökonomisch. Deshalb muss es ein Ende der Austerität geben. Die Spaltung in Norden und Süden muss überwunden werden. Europa muss sicherstellen, dass seine Soft Power auch wirklich Power hat. Dies geht nur gemeinsam – nicht mit deutschen Sonderwegen beim Handel, nicht mit 27 China-Politiken.
  9. Herrschaft des Rechts durch multilaterale Ordnung. Den Rahmen für eine neue globale Ordnung können nur die Vereinten Nationen sowie multilaterale Organisationen wie etwa die WTO bieten. Es gibt keinen Weg daran vorbei – auch wenn es unbequem ist, auch wenn der Zustand und die Ergebnisse häufig ungenügend sind. Der Versuch sie umgehen, sich an ihre Stelle zu setzen, hat entscheidend zum Verlust globaler Governance beigetragen.
  10. Für eine wertebasierte Realpolitik. Die neue multipolare Welt zwingt zur Ehrlichkeit. In Zeiten der Bipolarität, des unilateralen Anspruchs konnte das Verfolgen knallharter Interessen noch erfolgreich ideologisch kostümiert werden. Heute ist eine nüchterne Abwägung der Interessen gefragt – multilateral und auf der Basis der Menschenrechte. Also eine wertebasierte Realpolitik.

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