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Wer Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie sichern will… der muss die parlamentarische Demokratie stärken.

Jürgen Trittin

Sehr geehrter Otmar Jung,

Herzlichen Glückwunsch zur Ehrung heute. Zur Demokratie, zur Meinungsfreiheit gehört die Ehrung des streitbar Andersdenkenden. Ihre Festschrift haben Sie mit Ihrem Wirken mehr als verdient.

1               Söder versus Laschet

Liebe Katharina,
Liebe Freundinnen und Freunde,

Am Sonntag schrieb Berthold Kohler in der FAZ über den Machtkampf zwischen Söder und Laschet, hier „traten auch das angeblich Moderne gegen das vermeintlich Morsche an, die Kraft der Person gegen die Macht der Institution und die Versuchungen des Populismus gegen den Glauben an Programm und Prinzip.

Es wachse in der Krise „die Sehnsucht nach starken Männern oder Frauen, die scheinbar immer genau wissen, was gerade zu tun ist.“

Die Methode Söder gegen die repräsentative Demokratie, das ist das Umfeld, in dem wir unsere Debatte führen.

Dieses Modell Söder ist kein Unikat. Wir kennen das von Sebastian Kurz, von Victor Orban. Selbst Emanuel Macron ist es nicht fremd.

2               Systemfrage

Wir haben heute eine Systemfrage zu beantworten.

Verträgt sich repräsentative Demokratie mit Volksentscheiden?

Diese Systemfrage haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit einem klaren Nein beantwortet.

Plebiszite gefährden die parlamentarische Demokratie.

Der Hauptgrund für dieses systemische Entscheidung liegt nicht in den Volksentscheiden der Nazis zum Austritt aus dem Völkerbund 1933, zum Reichspräsidenten 1934, und zum Anschluss Österreichs 1938. Diese sollten lediglich nach erfolgter Machtübertragung die Herrschaft der Faschisten legitimieren.

Dennoch sollte es die Verfechter von Volksentscheiden nachdenklich machen, dass ausgerechnet die Nazis zu diesem Element direkter Demokratie griffen.

Doch der eigentliche Grund für die Systementscheidung für die repräsentative Demokratie im Grundgesetz lag in der Weimarer Republik, lag in dem Nebeneinander direkt demokratischer Elemente und parlamentarischer Verfassung.

Hierzu zählten nicht nur Volksentscheide wie die gescheiterten Abstimmungen zur Fürstenenteignung oder gegen den Young-Plan. Hierzu zählte vor allem die Rolle des direkt gewählten Reichspräsidenten.

In einer Gesellschaft, die von Rechts mit dem Narrativ durchdrungen wurde, der 1. Weltkrieg sei durch einen „Dolchstoß“ an der Heimatfront verloren gegangen, ausgeführt von „vaterlandslosen Parteien„, bekam dieser die Rolle als des wahren Vertreter des Willens des Volkes.

Zwischen dem Reichspräsidenten und dem Parlament gab es keine Konkordanz, sondern Konkurrenz. Präsident und Parlament ergänzten sich nicht, sondern konkurrierten um die höhere Legitimität.

Hindenburgs Präsidentschaft endete in der Kroll-Oper mit der Machtübertragung an die Nazis.

Die den Gefängnissen und KZs entkommenen Väter und Mütter des Grundgesetzes haben deshalb eine Verfassung geschrieben, die die Konkurrenz zwischen gewählten Abgeordneten und einem vermeintlichen Volkswillen verbannte.

3               Der Wille des Volkes

Die Berufung auf den Willen des Volkes teilen rechte Antidemokraten mit den Verfechtern von Volksentscheiden. Sie teilen die Idee, dass der demokratische Wettstreit der Parteien im Parlament den Willen des Volkes nicht oder nicht vollständig abbildet.

So kam es, dass lange Zeit Die Grünen, eine Partei des Schutzes von Minderheiten, dem Volksentscheid die Stange gehalten haben. Das hat etwas mit ihrer Geschichte zu tun.

Die Grünen hatten sich gegen einen Allparteienkonsens für Atomkraft, für Atomraketen gegründet. Mit ihrer Ablehnung von Atomkraft und Atomraketen stießen sie auf weit mehr Zustimmung als sie Wähler fanden.

Wie in Bayern mehr Menschen für Insekten sind, als sie Grüne wählen. Während kein Fünftel der Berliner grün wählte, wollten mehr 50 % das Tempelhofer Feld grün lassen.

Dennoch ist die Vorstellung von dem Willen des Volkes falsch und zutiefst antidemokratisch.

Es gibt nicht das Volk und damit auch keinen wahren Volkswillen.

Die Gesellschaft besteht aus unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Interessen. In der repräsentativen Demokratie werden sie auf der Grundlage von Gewaltenteilung und Verfassung immer wieder neu ausgehandelt, mit Mehrheit bestimmt und auch mit Mehrheit revidiert.

Demokratie ist ein Prozess.

In ihm werden gelegentlich radikale Außenseiter Begründer neuer gesellschaftlicher Konsense – wir Grünen sind das beste Beispiel dafür.

Die Rede vom dem Willen des Volkes aber denunziert gerade diesen mühsamen und widersprüchlichen Prozess. Die daraus abgeleitete Forderung nach Volksentscheiden beansprucht eine höhere demokratische Legitimität als die parlamentarische Gesetzgebung. In ihr spiegelt sich angeblich der wahre Wille des Volkes.

Der Volksentscheide ergänzen die repräsentative Demokratie nicht, sondern zielen darauf, sie zu ersetzen. Sie schwächen sie.

Die unzähligen Regelungen zur Begrenzung der schädlichen Wirkungen von Volksentscheiden in den diversen auch von Grünen mit getragenen Gesetzentwürfen zeugen vom Wissen um diesen Systembruch und dem untauglichen Versuch ihn einzuhegen.

Die Schwächung der parlamentarischen Demokratie wird auch gar nicht bestritten. So wären die meisten Berliner Grünen empört, wenn sich ein neu gewähltes Abgeordnetenhaus daran machen würde, auf dem Tempelhofer Feld Häuser zu bauen. Zwar wäre das eindeutig demokratisch legitimiert, doch „die dürfen doch nicht einfach einen Volksentscheid kippen“.

Ich bin nicht dafür – aber dürfen täten sie es.

4               Nationalismus gegen Europa

Was wir uns aber ernsthaft fragen müssen: können wir uns in einem gemeinsamen Europa, in einer von rechten Antidemokraten herausgeforderten Welt eine solche Schwächung der repräsentativen Demokratie leisten?

Die Erfahrungen aus Europa sagen Nein.

Heute spricht Viktor Orban von der „Illiberalen Demokratie“. Orbans Diktatur der Mehrheit ist keine Demokratie.

Demokratie beruht auf Gewaltenteilung, freier Presse, unveräußerlichen Menschenrechten.

Heute wollen Nationalisten und Populisten die wichtigste Konsequenz unserer Geschichte zerstören – das gemeinsame Europa.

Das sind keine Populisten, die berechtigte Motive antreibt. Sie wollen keine Partizipation – im Gegenteil.

Die schlimmste Rückschläge Europas gehen auf das Versagen von Parlamenten und auf Volksentscheide zurück.

Die gemeinsame Verfassung scheiterte an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Sie hat denen, die aus Angst vor Billigkonkurrenz gegen die Verfassung stimmten, nicht mehr Rechte verschafft – sie hat den Grundrechtekatalog in seiner Wirksamkeit geschwächt.

Das war beabsichtigt. Diese Volksabstimmungen waren kein Signal der Unterprivilegierten an die da Oben.

Das ist in der Schweiz so, wo der schwerreiche Christoph Blocher mit seiner SVP nicht nur ein Minarett-Verbot per Volksabstimmung durchgesetzt hat, sondern auf dem gleichen Weg die Arbeitnehmerfreizügigkeit mit der EU beenden wollte. Zum Glück hat Europa die Volksabstimmung in der Schweiz einfach übergangen und so klare Grenzen gesetzt.

Das gilt für den größten Rückschlag für Europa. Als das britische Unterhaus sich aufgab, gab es den Brexit. Angetrieben wurde der Brexit durch einen Teil der Elite der britischen Oberschicht, die sich für einen reinen Binnenmarkt ohne soziale und ökologische Standards stark machte. Und wie leicht für solche Kampagnen eine NGO zu gründen ist, kann man im Land der Murdochs und der Daily Mail beobachten.

Man muss aber auch nicht so weit schauen. Siehe Berlin: Die erfolgreiche Kampagne zur Offenhaltung des Flughafen Tegels hat ihren Drive nicht durch die FDP, sondern durch Bild bekommen.

Der Brexit hat Großbritannien nicht zusammengeführt. Er hat es tiefer gespalten.

Volksentscheide kennen nur Ja oder Nein. Volksentscheide bedeuten The Winner takes it all. Europa mit seiner Vielzahl von Menschen, Kulturen, Regionen und Staaten ist der institutionalisierte Kompromiss. Kompromiss ist Europas Wesen.

Dieses Europa aber brauchen wir, wenn wir die Klimakrise begrenzen wollen, wenn wir globale Armut überwinden wollen. Seine Handlungsfähigkeit zu stärken, heißt seine Institutionen zu stärken. Heißt das europäische Parlament, heißt die Kommission zu stärken.

Die Verfechter einer Politik unter Berufung auf einen vermeintlichen Volkswillen wollen das Gegenteil. Die Nationalisten kämpfen für Fexit, Nexit, Dexit in einer transnationalen Front.

Eine Europapartei wie Die Grünen, eine Partei der Minderheiten und der Vielfältigkeit darf der Politik des Gesunden Volksempfinden nicht die Instrumente in die Hand geben.

Deshalb haben wir uns im aktuellen Grundsatzprogramm erneut nicht für die Propagierung des Volksentscheides entschieden.

5               Mehr Europa – Stärkere Parlamente

Wer Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie sichern will, wer mehr Europa will, wer zusammenhalten will, der muss die parlamentarische Demokratie stärken.

Und er darf sie nicht durch Volksentscheide schwächen.

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