Interessen und Werte: Ehrlich machen

Die Ordnung einer multipolaren Welt

Diskussion Wertegeleitete Außenpolitik an der Universität Potsdam am 05.12.2023

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Lieber Andreas Zimmermann,
Lieber Wolfgang Kalek,
Sehr geehrte Zuhörende,

Vielen Dank für die Einladung. Sie haben auf dem Plakat den Koalitionsvertrag zitiert. Die Koalition von SPD, Grünen und FDP wollen Außenpolitik „wertebasiert und europäischer“ aufstellen.

Ohne Zweifel sind hierfür mit der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie wie der neuen China-Strategie wichtige Grundlagen gelegt worden.

Und in kaum einer Rede von Kanzler, Außenministerin oder Verteidigungsminister darf der Satz fehlen: „Wir stehen für die Herrschaft des Rechts und nicht für das Recht des Stärkeren.“

Sehen wir uns in der Welt um, dann ist die Herrschaft des Rechts schwer unter Druck.

  • In der Ukraine belohnt Russland Folter, Mord und Vergewaltigung mit Orden. Die Toten des Angriffskrieges haben sechsstellige Höhen.
  • Fast unbeachtet sind zur gleichen Zeit in Äthiopien fast genauso viel Menschen.
  • Terroristen ermordeten am Oktober in Israel 1200 Menschen, Jüdinnen und Juden, Muslime, Christen, Buddhisten. Es war das verheerendste antisemitische Pogrom seit dem Holocaust.
  • Der Krieg zur Beendigung dieser Bedrohung in Gaza wirft die Frage der Grenzen des Rechts auf Selbstverteidigung auf.
  • Nach der Vertreibung der Hälfte der Bevölkerung und der Ermordung Hunderttausender schickt sich Syrien an, wieder in die Arabische Liga aufgenommen zu werden. Straflos.
  • Fluchtursachen wachsen; Kriege und eine eskalierende Klimakrise haben die Zahl der Flüchtenden im vergangenen Jahr verdoppelt. Das Mittelmeer ist ein Friedhof für Geflüchtete geworden.

Wie ist in einer solchen Welt eine wertebasierte, gar feministische Außenpolitik möglich?

In einer Welt multipler, sich gegenseitig verschärfender Krisen erleben wir einen dramatischen Verlust globaler Governance.

Die Nachkriegsordnung – Grundlage des Völkerrechts – trägt nicht mehr. Nach dem Ende der Blockkonfrontation, mit dem Scheitern des Unilateralismus ist

  • Der Sicherheitsrat – von den P5 blockiert,
  • Die OSZE – von Russland blockiert,
  • UNHCR, WFP, UNWRA – unterfinanziert,
  • Rüstungskontrollabkommen – gekündigt,
  • Atomwaffen – Aufrüstung statt Abrüstung.

Offenkundig wird die neue Ordnung einer multipolaren Welt gerade ausgekämpft.

Dazu drei Thesen:

  1. Deutsche Außenpolitik muss sich ehrlich machen.
  2. Wir müssen uns von dem Westen verabschieden.
  3. Eine multilaterale Ordnung wächst über multipolare Bündnisse gemeinsamer Interessen und Werte.

 

Ehrlich machen

Es gibt einen breiten außenpolitischen Konsens in Deutschland. Wir agieren auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, fest eingebunden in ein gemeinsames Europa, in transatlantischer Freundschaft und aus unserer historischen Verpflichtung gegenüber Israel (und den Palästinensern). Dem würden wohl von den Resten der Linken bis zur Union alle Außenpolitiker zustimmen.

Wir sind einer der größten und verlässlichsten Zahler im internationalen System, Treiber beim Ausbau Erneuerbarer Energien und im Kampf gegen die Klimakrise. Und in Europa nehmen wir die meisten Geflüchteten auf.

Aus einer Bedrohung für den Kontinent ist Deutschland zu einem politischen Stabilitätsanker Europas und der Welt geworden.

Doch empfinden andere Gesellschaften diese Liste von Werten als eine vollständige Beschreibung deutscher Außenpolitik? Wohl kaum.

Sie sehen die stärkste Wirtschaftsmacht Europas. Den ehemaligen Exportweltmeister, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Offensichtlich hat es Deutschland mit seiner wertegeleiteten Außenpolitik zu Wohlstand und Jahren des Friedens gebracht – unter dem Schutzschirm der USA und im gemeinsamen Markt Europa.

Freundlich gesagt: Die Rede von der wertegeleiteten Außenpolitik ist nicht die vollständige Geschichte.

Deutschland hat Interessen.

  • Wir haben Interesse an offenen Märkten – deshalb schlossen und schließen wir zahllose Handelsabkommen.
  • Deutschland braucht Rechtssicherheit – deshalb hat es für die Handelsabkommen private Schiedsgerichte für Investoren erfunden, die heute von der EU-Kommission selbst in Verträge mit gut funktionierenden Rechtsstaaten wie Kanada reinverhandelt werden.
  • Deutschland importiert bisher gut 70 % seiner Energie – die sollte möglichst billig sein, auch um den Preis der Abhängigkeit von Russland. Es war nicht Naivität, es war schlicht Gier, die Schröder und Merkel, BASF und IG Chemie in die Abhängigkeit von Puti.
  • Deutschland hat die eigene Währungssouveränität aufgegeben und sich unverbrüchlich in den Euro eingebunden – auch zum eigenen Vorteil.
  • Wir sind der größte Nettozahler der Europäischen Union – und ihr größter Profiteur.

Keine dieser Interessen ist illegitim.

Diese Interessen richten sich nicht pauschal gegen Werte. Sie stehen mit ihnen in einem Spannungsfeld. Wenn Deutschland die Energie- und Wasserstoffkooperation mit Namibia massiv ausbaut, dient das der Bekämpfung der Armut, dem Weltklima, der Versorgungssicherheit und dem Industriestandort.

Aber wir sollten uns ehrlich machen.

Wertegeleitete Außenpolitik existiert nicht losgelöst von Interessen.

 

Das Märchen vom Westen

Zum ehrlich Machen gehört, dass wir aufhören, leichtfertig uns mit dem Westen zu identifizieren.

Dies gilt schon deshalb, weil die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eine universelle ist, die alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ebenso wie deren Charta ratifiziert haben.

Folter, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Angriffskriege können nicht mit Hinweis auf eine vom Westen aufgeherrschte Werteordnung gerechtfertigt werden.

Folgen wir dem Historiker Heinrich August Winkler so ist Der Westen ein „normative Projekt“ – mit ungewissen Zukunftschancen.

Diesem normativen Projekt – entsprungen der Aufklärung, der französischen Revolution, niedergelegt zuerst in der amerikanischen später in vielen Verfassungen, entsprechen demokratische Gesellschaften mit einer funktionierenden Gewaltenteilung, Meinungs- und Pressefreiheit.

Solche Gesellschaften gibt es nicht nur in Europa und Nordamerika. In Südafrika war es möglich, dass die Presse einen Präsidenten faktenbasiert der Vergewaltigung und der Korruption beschuldigte. Präsident Zuma wurde wegen Korruption verurteilt.

In Brasilien setzte ein Gericht die Präsidentin Dilma Rousseff nach entsprechenden Medienberichten ab, ihr Vorgänger saß über 500 Tage im Knast, bevor ein Gericht ihn freisprach. Heute ist Lula da Silva zum dritten Mal Präsident.

Ohne Zweifel sind Südafrika und Brasilien Westen im Sinne Winklers.

Wie kommt es, dass beide Staaten mit Autokratien wie China und Russland und dem demokratischen Indien nicht nur die Allianz BRICS bilden, sondern diese beim letzten Gipfel ausdrücklich als Gegengewicht zum Westen definierten?

Indiens Unabhängigkeit wurde gegen die Westminister-Demokratie des Großbritanniens erkämpft. Das Apartheidregime Südafrikas wurde über Jahrzehnte von Europa und den USA gestützt – bei der Befreiung durch Nelson Mandela half nicht nur ein weltweiter Boykott, sondern auch die Waffen der Sowjetunion an den bewaffneten Arm des ANC unter Ronny Kasrils. Rousseff und Lula erkämpften mit Streiks und Waffen die Demokratie Brasiliens gegen die USA.

Dieses Jahr haben wir allen Anlass, uns zu erinnern.

  • Anfang Dezember starb mit 100 der große Henry Kissinger. Er hat nicht nur die Öffnung Chinas ermöglicht. Er bekam den Friedensnobelpreis für das Ende des Vietnamkrieges, nachdem der Versuch der USA, Vietnam und Kambodscha „in die Steinzeit zu bombardieren“, gescheitert war.
  • Am 11. September jährte sich der Putsch in Chile zum 50. Mal.
  • Vor 40 Jahren überfielen die großen USA das winzige Grenada, weil sie eine Landebahn für Interkontinentalflüge bauten.
  • Vor 20 Jahren, am 20. März 2003, marschierten die USA in den Irak – obwohl sie wussten, dass es dort keine Massenvernichtungswaffen aber reichlich Öl gab.

Die Europäer hatten nicht den Wums der USA – aber verhielten sich oft nicht besser. VW, Mercedes und BMW machten gute Geschäfte in der Zeit der Apartheid Südafrikas und der Militärdiktatur Brasiliens. Die Wahl Bolsonaros sahen deutsche Unternehmen in Brasilien mehr als wohlwollend.

In Frankreich ermittelt die Staatsanwaltschaft, ob die Intervention in Libyen nicht auch dazu diente, die Finanzierung von Sarkozys Wahlkampf durch Gaddafi zu vertuschen. Wenn Putschisten den französischen Botschafter aus dem öl- und gasreichen Guinea ausweisen, jubelt die Bevölkerung, weil das von Total und Frankreich geschmierte System sie in bitterer Armut zurückließ.

Dort, wo durch Europa Versuche gemacht wurden, die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beenden, wurden Täter aus dem Balkan wie Afrikas verurteilt. Ein riesiger Fortschritt. Doch während wir für eine Ergänzung des Römischen Statuts um den Tatbestand des Aggressionskrieges streiten, wurde Tony Blair für den Krieg im Irak nie angeklagt, obwohl die Briten Vertragsstaat des IGH sind.

Die Realpolitik Europas und Nordamerikas trat das normative Projekt des Westens immer dann mit Füßen, wenn es nützlich erschien.

Das ist nicht nur ein moralisches Problem. Die Missachtung der Werte hat realpolitische Konsequenzen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine unterminiert die Sicherheit aller. Deutschland hat in den Vereinten Nationen dagegen viele Staaten hinter sich gebracht.

Doch entscheidende Player fehlen oder pflegen einen „balancierten Ansatz“. Es sind die großen Demokratien der Welt, die Mitglied bei BRICS sind. Wir sprechen hier nicht nur von großen Gesellschaften, an deren Schicksal Kontinente hängen-.

Eine Polarisierung der Welt zwischen einem Globalen Süden und dem Westen ist nicht im Interesse Europas. Wir könnten in der Minderheit sein.

Dies gilt umso mehr, wenn Europa nach vier Jahren transatlantischen Gemeinsamkeit mit Biden und Blinken erneut mit einer trumpistischen US-Administration konfrontiert wäre, die Europa als „worse than China“ behandelt.

 

Multipolare Bündnisse

Nach dem Ende der Blockkonfrontation, dem Scheitern des Unilateralismus im Irak und einer rein marktgetriebenen Globalisierung in der Finanz- und Covidkrise leben wir in einer multipolaren Welt.

In ihr gelingt es Russland, sich im Globalen Süden als antikoloniale Macht zu kostümieren. Das gleiche Russland, das im Sahel neokoloniale Rohstoffabkommen von Wagner abschließen lässt und gerade daran geht mit „Neu-Russland“ gewaltsam die Ukraine zu kolonialisieren.

Interessen wie Werte in der multipolaren Welt lassen sich nicht auf den Gegensatz Demokratie versus Autokratie reduzieren. Zwischen kapitalistischen Demokratien und staatskapitalistischen Autokratien gibt es viele Mischformen.

So richtig die Absage Bernie Sanders an den kriegerischen Demokratieexport der Bush-Rumsfeld-Ära war, so falsch wäre es die innere Verfasstheit der Gesellschaften zu ignorieren.

Es war gerade die Blindheit der Kissinger geprägten realpolitischen Schule für die inneren Dynamiken von Gesellschaften, die wichtige Konsequenzen für deren außenpolitisches Agieren unterschätzte.

Putin stand von Beginn seiner Herrschaft nicht für Stabilität, sondern für Krieg als Legitimation von Herrschaft. Wer dem im Weg stand, wie Anna Politkowskaja, wurde abgeräumt. Grüne die schon damals auf den aggressiven Charakter der Herrschaft hinwiesen, waren keine Romantiker, sondern die klügeren Realpolitiker. Putins System gehorcht eben nicht dem gleichen ökonomischen Kalkül wie die Staaten Europas. Das musste Deutschland in der Gaskrise schmerzhaft lernen.

Xi Jinpings China ist nicht mehr das von Deng Xiaoping. Es beansprucht offen Weltmacht zu sein und hat auch wenig Hemmungen die Interessen seiner Nachbarn im Südchinesischen Meer oder an der indischen Grenze mit Füßen zu treten.

Aber anders als Russland hat China in der Systemrivalität ein für viele Gesellschaften attraktives Gegenmodell zum demokratischen Kapitalismus entwickelt. Die Überwindung absoluter Armut, Millionen Menschen aufgestiegen in eine globale Mittelklasse, das ist ernste Konkurrenz für Europas Idee von Herrschaft des Rechts.

Die Bundesregierung hat auf diese Herausforderung mit ihrer Außenpolitik reagiert.

  • Sicherheit ist robust, resilient und nachhaltig. Es geht die Sicherheit vor Krieg, der Sicherheit unseres Gesellschaftsmodells, der Sicherheit der Grundlagen des Lebens.
  • China ist Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale – und es gibt keinen Bereich der Beziehungen, in dem nicht alle diese drei Dimensionen eine Rolle spielen.
  • Deutschland verstärkt seine Beziehungen zu Staaten mit einer vergleichbaren Interessenlagen – dabei stehen Länder des globalen Südens wie Indien, Brasilien und Südafrika neben den ASEAN-Staaten im Mittelpunkt.
  • Gewicht in der multipolaren Welt kann Deutschland dabei nur in einer gemeinsamen europäischen Politik Dafür muss es mit den eigenen neokolonialen Praktiken – Stichwort France Afrique – brechen und zu Partnerschaften auf Augenhöhe kommen.
  • Europa muss nicht nur seine politischen und wirtschaftlichen Beziehungen diversifizieren – es muss einseitige Abhängigkeiten Deshalb ist der Ausbau Erneuerbare Energien und der Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft nicht nur ein klimapolitisches Gebot, sondern eine geostrategische Notwendigkeit.
  • Europa muss seine wirtschaftliche Macht nutzen, um globale Governance zu stärken. Handelsabkommen müssen sich am 1,5° Ziel ausrichten, CBAM – also ein CO2 – Grenzausgleich – beschleunigt die Entwicklung globaler CO2-Preise.
  • Nicht „westliche Werte“, sondern internationale Vereinbarungen wie die ILO-Normen sind die Grundlage für Lieferkettengesetze gegen Zwangs- und Kinderarbeit.
  • Die Internationale Finanzinstitutionen müssen für den globalen Süden und seine Interessen geöffnet werden – anstatt zahnlos zu klagen, wie China immer mehr Länder in Schuldenfallen treibt.

 

Per Aspera ad Astra

Für eine Herrschaft des Rechts muss globale Governance gestärkt werden.

Der Weg zu mehr Multilateralismus führt über eine globale Bündnispolitik, über Energiepartnerschaften, Handelsabkommen und plurilaterale Verträge.

Er führt über die G20 – nicht die G7.

Das ist mühsam. Aber in einer multipolaren Welt der einzig aussichtsreiche Weg für eine wertebasierte Außenpolitik.

Per aspera ad astra – Durch das Raue zu den Sternen.

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