Europa hat mehr verdient – Wie die Kanzlerin Europa kaputtspart

Sehr geehrter Herr Dr. Nass, sehr geehrter Herr Dr. Kerber, meine Damen und Herren,

zunächst herzlichen Dank für die Gelegenheit, heute hier zu sprechen.

Beim Blick auf Ihre Einladung ist mir der Titel aufgefallen, den Sie gewählt haben. Er heißt schlicht und einfach „Europa!“. Mit Ausrufezeichen. Das klingt nach Begeisterung für Europa. Es zeigt, was auf dem Spiel steht. Das ist eine lautstarke Aufforderung.
Die globale Finanzkrise stellt die gesamte europäische Integration auf den Prüfstand. Es geht nicht um Griechenland. Es geht nicht um Italien. Es geht nicht um eine Währung. Es geht um unser gemeinsames Europa.

Im Tauziehen um die Eurorettung sind gleich mehrere Schwächen der Europäischen Union offenbar geworden:

Das Defizit einer Währungsunion ohne Wirtschaftsunion.
Die Schwäche der europäischen Institutionen und daraus folgend die politische Kakophonie und Handlungsunfähigkeit in der Krise
Der Irrglauben – vor allem der großen europäischen Staaten – diese Schwäche durch eine Stärkung der Zusammenarbeit von Regierungen überwinden zu können. In Wahrheit perpetuiert dies die Schwäche Europas.

Die Politik der schwarz-gelben Koalition in dieser Schuldenkrise der Banken und Staaten war und ist ökonomisch einseitig und im Ergebnis anti-europäisch. Das Zögern und Zaudern dieser Bundesregierung, die Absage an notwendige Entscheidungen, die dann mit einigen Wochen Verzögerung doch als unvermeidbar beschlossen wurden, hat diese Krise verlängert, verschärft und verteuert.

Und sie hat antieuropäische Ressentiments befördert. Frau Merkel ist den Antieuropäern in den eigenen Reihen nicht nur viel zu spät entgegengetreten. Sie hat vor ihnen gekuscht – ja sie mit Vorurteilen über frühverrentete Griechen bedient. Was mussten wir nicht alles ertragen… Vom Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone bis zum Verkauf griechischer Inseln war alles an eurochauvinistischen und populistischen Vorschlägen dabei. Und es kam immer aus Koalitionskreisen.

Das veranlasste sogar die Spitzenverbände der Deutschen Wirtschaft – auch heute sind ja einige Vertreter von ihnen hier – zu einem Offenen Brief an die Parlamentarier, in dem sie eindringlich forderten, der Aufstockung des Euro-Rettungsschirms zuzustimmen.

Leider hat sich nicht viel verändert. Denn Fakt ist: Mit ihrem Nein zu allen wirksamen Lösungen gefährdet Frau Merkel weiterhin die Zukunft des Euro und damit die Zukunft der europäischen Integration. Die amerikanische Rating-Agentur Standard & Poor´s hat kürzlich sowohl Frankreich und Österreich als auch den Euro-Rettungsschirm EFSF herabgestuft. Das offenbarte eine seltsame Allianz. Gregor Gysi, Guido Westerwelle und Wolfgang Schäuble liefen Seit an Seit Sturm gegen diese Entscheidung. Sogar vom „Krieg der amerikanischen Ratingagenturen gegen die europäischen Völker“ war die Rede. Ratingagenturen werden zum Sündenbock für die anhaltende Krise, der Antiamerikanismus einte Neoliberale und Staatssozialisten.
Aber: Standard & Poor´s hat Recht.

Die Agentur stellt lediglich ein Zeugnis für das Offensichtliche aus: Das schlechte Krisenmanagement Europas, das Ignorieren der wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone als Krisenursache und die von Merkel verordnete dumpfe Sparpolitik.

Explizit hat S&P den letzten Krisengipfel im Dezember kritisiert. Zu Recht. Der dort verabschiedete Fiskalpakt war damals schon nichts wert – und wird aktuell weiter aufgeweicht. Juristisch ist er haltlos – die EU-Verträge bleiben vorrangig. Politisch war er von Anfang an tot –
der französische Senat, Finnland oder Irland haben sofort gesagt, dass sie keine Schuldenbremse wollen.

Drei Jahre Krisenmanagement a la Merkozy haben ein fatales Ergebnis: Das Nein zu Eurobonds oder der Banklizenz für die europäischen Rettungsschirme hat zu einer halsbrecherischen Politik der EZB geführt. Sie häuft immer mehr Staatsanleihen in ihren Tresoren an – für die wir alle haften. Wir sind also längst drinnen in der Haftungsgemeinschaft.

Gleichzeitig verschärfen sich die Krisenzeichen: Die Banken trauen sich nicht mehr über den Weg und bunkern Hunderte Milliarden Euro bei der Europäischen Zentralbank. Die Zinsen für die Peripheriestaaten sind hoch, die Kapitalausstattung der Banken anhaltend schwach. Von einer leverage ratio von 5 % wie in der Schweiz sind systemrelevante Banken in Deutschland sehr weit entfernt.

Die Kritik von Standard&Poor’s hat also gute Gründe. Zweifelsohne haben Ratingagenturen in der Vergangenheit viel Mist gebaut. Sie haben eigengestrickten Ramsch emittiert und AAA geratet. Solchen Interessenkonflikten muss begegnet werden. Es ist richtig, das Oligopol der drei großen Agenturen langfristig zu beseitigen und eine oder mehrere europäische Ratingagenturen zu fordern.

Nur könnte die zu keinem anderen Ergebnis kommen. Es bringt nichts, auf den Boten der schlechten Nachrichten einzudreschen. Standard & Poor´s bezeichnet Ramsch als Ramsch. Nicht mehr und nicht weniger.

Das Problem sind nicht die Bewertungen der Ratingagenturen, sondern Merkels falsche Krisenanalyse. Frau Merkel reduziert die Krise auf eine Staatsschuldenkrise in den Peripherieländern, ausgelöst durch überbordenden Staatskonsum. Daran ist fast alles falsch. Die Schuldenkrise beschränkt sich nicht auf Staaten, sie umfasst Banken und private Haushalte und sie ist längst in der Mitte Europas angekommen.

Anders als Deutschland waren Spanien und Irland lange haushaltspolitische Musterknaben – bis die enorme Verschuldung des Privatsektors in der Finanzkrise sozialisiert wurde. Die Verstaatlichung von Bankschulden, hervorgerufen auch durch eine Überschuldung privater Haushalte in den USA wie Spanien hat die Staatsverschuldung überall in Europa massiv in die Höhe getrieben. Die Staatsschuldenkrise ist nicht zu verstehen ohne die globale Finanzmarktkrise.
Hinzukommt ein systematisches Problem innerhalb der Eurozone – die wirtschaftlichen Ungleichgewichte. Auf Dauer kann es nicht gut gehen, wenn innerhalb einer Währungsunion die einen permanent Überschüsse und die anderen ebenso permanent Leistungsbilanzdefizite produzieren. Anders gesagt: Eine Exportstrategie, die sich ihre Produkte auf Pump bezahlen lässt, ist nicht nachhaltig. Das ist eine Wahrheit, die Schwarz-Gelb nicht gerne hört.

Die Wahrheit ist: Merkels Krisenpolitik ruiniert das deutsche Exportmodell. Deutsche Banken, Versicherungen und Unternehmen erleben das gerade im Fall Griechenlands. Ihre Forderungen sind teilweise wertlos geworden. Diese Krise ist – anders als der Jahreswirtschaftsbericht suggeriert – keine konjunkturelle Delle, nach der es einfach so weiter geht. Sie ist auch keine, die sich auf Europa beschränkt.

Tatsächlich werden wir Zeugen eines historischen Einschnitts des demokratischen Kapitalismus, wie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem definiert. Dieses Modell aus Marktwirtschaft und Demokratie war seit dem 2. Weltkrieg überaus erfolgreich und hat sich im Systemkonflikt mit dem Osten globalisiert – nicht nur im Westen, sondern auch in vielen Schwellenländern wie Brasilien oder Südkorea.

Der lange Erfolg dieses Modells beruhte darauf, dass es zwei Prinzipien temporär miteinander versöhnte, das ökonomische Prinzip der Gewinnmaximierung und die demokratisch eingeforderte Teilhabe an Wohlstand. Dieses Modell geriet schon vor Jahrzehnten in eine Krise, als die Wachstumsraten der Nachkriegszeit nicht mehr erreicht wurden. Anders gesagt: Mit Wachstumszahlen von 2 % sind dauerhaft Renditen von 15 % nur
zu erzielen, wenn andere Verluste in dieser Höhe erleiden.

Da der Konflikt nicht zu lösen war, musste ein Ausweg gefunden werden. Der Ausweg der 70er Jahre war Inflation, der 80er Jahre zunehmende Staatsverschuldung, der Ausweg der 90er private Verschuldung – also Teilhabe auf Pump zu Lasten kommender Generationen. „Inflation, Haushaltsdefizite und Unter-Regulierung der Finanzmärkte waren im Kern nicht Folgen fehlerhafter Wirtschaftspolitik, sondern dienten der zeitweiligen Zufriedenstellung demokratisch-politischer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die mit wirtschaftlichen Forderungen nach Profitabilität und Verteilung nach Maßgabe marginaler Produktivität unvereinbar waren.“ (Streeck)

Nachdem der „Privat-Keynesianismus“ eines Alan Greenspan in der Lehman-Pleite pulverisiert wurde, waren die Staaten gezwungen, große Teile der aufgelaufenen Verschuldung zu verstaatlichen.

Hinzu kommt aber ein Weiteres:
Die Globalisierung hat das Kräfteverhältnis zwischen Politik und Markt, zwischen Demokratie und Kapitalismus, zulasten der Demokratie verschoben. Noch einmal Wolfgang Streeck: „In dem Maße, wie die Auseinandersetzung sich vom Arbeitsmarkt und den Arbeitsbeziehungen auf die öffentliche Haushaltspolitik, anschließend auf die Politik der Regulierung des Finanzsektors und von da auf die internationale Geldpolitik verlagerte, wurde der demokratisch-kapitalistische Verteilungskonflikt zunehmend gegen demokratischen Druck von unten isoliert.“

Es geht also nicht nur um das Rezept zur Behebung einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Es geht auch darum, das demokratische Prinzip zu stärken, politische Handlungsfähigkeit, politische Souveränität wieder zu gewinnen. Nur ein gestärktes Europa kann in globalisierten Märkten Standards setzen – von der Chemie- über Handels- bis hin zur Bankenregulierung. Europa war in vielen Fragen Vorreiter – etwa in der Klimapolitik, in der Energiepolitik und hat so neuen Technologien und neuen Instrumenten zum Durchbruch verholfen.
Unter den Bedingungen der Globalisierung gibt es mehr politische Souveränität nur mit einem stärkeren Europa, demokratisch legitimiert und mit starken europäischen Institutionen. Dies ist etwas anderes als das Europa der Regierungen, das uns von Merkozy angedient wird. Nach wie vor glaubt die Kanzlerin, ausschließlich durch Sparen käme ganz Europa aus der Krise. Immer heftigere Sparrunden führen aber dazu, dass die Wirtschaft von Irland bis Griechenland einbricht, die Menschen ihre Arbeit verlieren und das Einkommen drastisch sinkt. Dann werden diese Länder auch weniger deutsche Produkte kaufen.

Gleichzeitig ist die Politik des „Sparen bis es quietscht“ geeignet, den Zusammenhalt in Europa zu unterminieren. Mittelfristig werden die Bevölkerungen die Herrschaft von Technokraten von IWF, EZB oder Goldman-Sachs nicht akzeptieren. Selbst ein Mario Monti muss die Kanzlerin heute darüber belehren, dass man gegen Zinssätze von 7 % nicht ansparen kann und dass wir eine gemeinsame europäische Strategie zur Abwehr der Spekulation gegen einzelne Eurostaaten brauchen.

Europa wird nur aus der Krise kommen,

wenn die notwendige Konsolidierung um eine nachhaltige Wachstumsstrategie und ein europäisches Investitionsprogramm ergänzt wird.
wenn die wirtschaftlichen Ungleichgewichte bekämpft werden – in den Defizitländern durch Hebung der Wettbewerbsfähigkeit, in den Überschussländern durch eine Stärkung der Binnennachfrage und das geht nur über höhere Löhne und einen gesetzlichen Mindestlohn.

Ich frage mich, wie es sein kann, dass die deutschen Wirtschaftsvertreter nicht viel vehementer auf eine umfassende und gesamteuropäische Lösung der Krise pochen. Schließlich wäre das in ihrem ureigensten Interesse. Die Konsequenzen einer Staatspleite Griechenlands und anderer Staaten und eines Zerfalls der Eurozone wären katastrophal auch und gerade für Deutschland.

Was würde passieren, wenn Griechenland zahlungsunfähig oder gar aus der Euro-Zone austreten würde? Das Szenario wäre
doch folgendes:

Auch andere finanzschwache Länder würden unter starken Druck geraten, die Risikoaufschläge für ihre Staatsanleihen würden drastisch steigen, auch diese Länder wären dann womöglich von der Zahlungsunfähigkeit bedroht. Der gesamte Währungsraum käme ins Wanken. Unsere Exporte würden sich drastisch verteuern. Wäre Portugal als nächstes in Gefahr, würde auch Spanien ins Visier der Spekulanten geraten, denn spanische Banken sitzen auf portugiesischen Schulden in Höhe von 80 Milliarden Euro. Wird Spanien, also die viertgrößte Volkswirtschaft Europas, mit in den Abgrund gerissen, wäre auch Frankreich in Not. Denn französische Banken wiederum halten spanische Anleihen in Höhe von 140 Milliarden, Deutschland sogar in Höhe von 180 Milliarden Euro.

Dieser unkontrollierbare Domino-Effekt ist nicht von der Hand zu weisen und das Schlimme ist: Durch das dilettantische Krisenmanagement à la Merkel ist er auch nicht auszuschließen. Der Schlüssel zum Ausweg aus der Euro-Krise liegt in mehr Europa und in einer gemeinsamen europäischen Krisenstrategie. Das ist im deutschen Interesse. Vielmehr brauchen wir ein gemeinschaftliches Einstehen für die Schulden, also Eurobonds, wie sie auch Ministerpräsident Monti gefordert hat. Außerdem ist ein Schuldenabbau nötig, wie es der Sachverständigenrat vorschlägt. Und wir brauchen eine europäische Vermögensabgabe.

Die Schulden des einen sind die Vermögen der anderen. Wir müssen an beiden Seiten ran. Diese Schritte lösen nicht das grundlegende Problem der schwachen Wettbewerbsfähigkeit besonders Griechenlands oder Portugals oder den schlechten Steuervollzug in Italien. Aber sie geben den Staaten Zeit für ihre Reformen, indem sie den Schuldendienst abmildern.

Frau Merkel verweigert den Peripherieländern diese Zeit. Damit holt sie die Krise von den Rändern ins Zentrum Europas. Neben den politischen Kosten wären die ökonomischen Kosten eines Zerfalls der Euro-Zone horrend. Europa hat mehr verdient. Es braucht einen visionären Vorreiter, der für ein handlungsfähiges und solidarisches Europa kämpft.

Zu Helmut Kohls Zeiten war Deutschland zweifelsohne dieser Vorreiter. Heute flieht die deutsche Kanzlerin in technokratische Halbfertigkeiten. Im Wachstums- und Stabilitätspakt gelang es zwar gegen deutschen Widerstand, dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse als Störung des Binnenmarktes zu definieren – werden beschlossene Maßnahme zu ihrer Minderung nicht umgesetzt, soll dies aber – anders als bei Defiziten – nicht sanktioniert werden. Im Fiskalpakt soll es zwar Vorgaben in der Haushaltspolitik geben – eine Mindestharmonisierung der Einnahmeseite, also bei den direkten Steuern, ist nicht vorgesehen.

Und anstatt die Kommission zu stärken und das Europaparlament zu beteiligen, soll nun ein völkerrechtlicher Vertrag das erreichen, was im Vollzug des Vertrages von Maastricht nicht gelang, obwohl doch alle wissen, dass dieser Fiskalpakt gegenüber dem Gemeinschaftsrecht nachrangig ist.

Und anstatt all dies in einem transparenten Prozess unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden, verhandeln Diplomaten in Hinterzimmern und rücken die Dokumente zu den Beratungen nur raus, wenn nationale Parlamente ihnen mit Nichtratifizierung drohen oder sie von Verfassungsgerichten dazu gezwungen werden.

Ich habe keine fertige Antwort auf die oben beschriebene Krise des demokratischen Kapitalismus. Aber wenn wir die aktuelle Krise überwinden wollen, dann müssen wir die Spekulation gegen einzelne Eurostaaten durch gemeinsame Anleihen beenden, eine Finanztransaktionssteuer einführen, konsolidieren und investieren und so für nachhaltiges Wachstum sorgen, Schulden durch einen Schuldentilgungsfonds abbauen – getragen von einer Vermögensabgabe, die Währungsunion zu einer echten Wirtschaftsunion mit starken europäischen Institutionen und starker demokratischer Legitimation weiter entwickeln.
Dies geht nur in einem offenen, transparenten, in einem demokratischen Prozess – nicht im Hinterzimmer. Unser
Beitrag dazu ist der Grüne Konvent am 24. Februar, zu dem ich Sie herzlich einlade.

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