Kämpfen oder schmollen

Wer bewusst nicht wählt, verhält sich undemokratisch arrogant – eine Antwort auf Harald Welzer

Von Jürgen Trittin

Im Spiegel 22/2013 ruft Harald Welzer dazu auf, nicht wählen zu gehen. Die Parteien seien alle gleich. Keine sei zu irgendeinem zukunftsfähigen Gedanken fähig.

Werfen wir einen Blick ins Land 90 Tage vor jener Wahl, die Harald Welzer zu boykottieren gedenkt.

Gehen wir in Berlin an der Komischen Oper vorbei, warnt ein turmhohes Plakat vor den Plänen der Grünen, Privatvermögen zum Abbau der Staatsschulden heranzuziehen. Die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, die sich heute nett als „Familienunternehmer“ vermarktet, hält schon den zweiten Kongress gegen eine drohende Vermögensabgabe ab. Mehrfache Milliardäre kostümieren sich als der deutsche Mittelstand.

Ebenfalls Unter den Linden in der deutschen Bank findet der Stahldialog 2013 statt. Die Stahlunternehmen kämpfen gegen die Energiewende. Sie zahlen zwar fast alle nichts für den Ausbau erneuerbarer Energien und profitieren von den gesunkenen Börsenpreisen. Sie bekommen vielfach die Kilowattstunde für 4 Cent, für die ein Mittelständler 26 berappen muss. Aber das genügt ihnen nicht, sie wollen nur 3 Cent zahlen, wie in Tennessee, wo der Staat den Strompreis subventioniert.

Setzt man sich in den ICE nach Hannover, prangt auf dem ausliegenden Zugbegleiter eine Anzeige des Freien Verbands deutscher Zahnärzte gegen die grüne Bürgerversicherung. Dort in Hannover inszeniert die Lobby der Chefärzte den deutschen Ärztetag als Konvent gegen die Bürgerversicherung – obwohl die Mehrheit der Ärzte für ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin ist.

Die Klientel, für die Schwarz-Gelb regiert, ist politisiert, organisiert und haut mächtig auf die Pauke. Man kennt seine Interessen. Unternehmensverbände, neoliberale Think-Tanks, konservative Meinungseliten kämpfen gegen einen rot-grünen Wechsel. Diese rechte Apo ist fest davon überzeugt, dass der Ausgang der Bundestagswahl über ihre Privilegien entscheidet. Sie hat recht.

Sie weiß nämlich, dass sie die politische Hegemonie in der Gesellschaft verloren hat. Zwei Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft sind spätestens nach der Finanzkrise für einen gesetzlichen Mindestlohn, regulierte Banken, höhere Steuern für Besserverdienende und große Vermögen, mehr Frauen in Führungspositionen, mehr Geld für Kitas, Schulen und Universitäten. Schon länger lehnen sie Atomenergie ab und wollen Klimaschutz und gleiche Rechte für Schwule und Lesben. Die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus ist vorbei.

Doch eine klare Mehrheit der linken Mitte in der Gesellschaft führt nicht automatisch zu einer politischen Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Die rechte Apo tut viel dafür, diese Mehrheit zu verhindern.

In dieser Situation eines Widerspruchs zwischen gesellschaftlicher und politischer Mehrheit schlägt Harald Welzer vor, auf den Kampf um die politische Mehrheit zu verzichten. Mit einer Begründung so schlicht wie Stammtisch. Die Parteien seien alle gleich.

Es ist schlechte deutsche Tradition, den Gegensatz zwischen „guter Gesellschaft“ und „schlimmer Parteipolitik“ herauszustellen. Oft steckte hinter der Verachtung für die Politik die Verachtung der Demokratie. Welzer wärmt diese Tradition auf. Positionen, die er für zukunftsweisend hält, stünden schließlich nicht zur Wahl. Er erklärt seine Standpunkte – etwa für ein Wirtschaftssystem ohne Wachstum oder eine andere europäische Wirtschaftspolitik – zu denen „des Souveräns“ und lastet ihre mangelnde Durchsetzung „den Parteien“ an.

Aber
die Behauptung, alle Parteien wollten in diesen Fragen das Gleiche und das Volk das Gegenteil, ist doppelt abstrus. Die relevanten Konflikte verlaufen mitten durch die Gesellschaft, zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Interessen, Weltanschauungen. Diese Konflikte werden an allen möglichen Orten dieser Republik ausgetragen, unter anderen im Deutschen Bundestag.

Welzer versteigt sich außerdem zu der Verleumdung, „keine der Parteien“ verschwende „auch nur einen Gedanken“ darauf, wie man die Euro-Krise sozialverträglich und demokratisch überwinden könne oder wie die Zivilisierung des Kapitalismus angesichts der Wachstumsproblematik gelingen könne. Diese Fragen werden ständig diskutiert, ja dieser Bundestagswahlkampf dreht sich geradezu um sie! Die Grünen etwa haben einen neuen Wohlstandsbegriff zu einem ihrer neun Wahlkampfschwerpunkte per Mitgliederentscheid bestimmt. Doch nicht nur sie thematisieren diese Fragen – siehe die von uns mitangestoßene Enquetekommission. Ein Problem aber bleibt: die entsprechenden Vorschläge haben bisher keine handlungsfähige Mehrheit. Und so was braucht man, um Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen.

Denn ihnen stehen mächtige Einzelinteressen entgegen. Man fragt sich, ob Welzer jemals hingehört hat, wie sich Verbands- und Meinungsmacht in Deutschland gegen ökologische und soziale Reformen formiert, sei es gegen die Finanztransaktionsteuer, den Emissionshandel, einen gesetzlichen Mindestlohn oder striktere CO²-Grenzwerte für Autos.

Solche Politikziele mögen dem wortradikalen Vertreter der Postwachstumsgesellschaft als Kleinkram gelten, sie sind allerdings notwendige Schritte einer ökologisch-sozialen Transformation. Und sie bergen zumindest die Chance, politische Mehrheiten zu finden und damit in die Realität umgesetzt zu werden.

Welzers Weigerung, den Kampf um die politische Mehrheit aufzunehmen, drückt eine undemokratische Arroganz gegenüber dem andersdenkenden Teil der Gesellschaft aus. Um die Überzeugung einer Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern kämpfen die Parteien des sozialen und ökologischen Reformlagers. Der Frust darüber, dass sich eine Postwachstumsvision und eine Europapolitik, die Krisenländer nicht in Sozialabbau, Lohnsenkung und Spar-Rezession schickt, noch nicht durch gesetzt haben, ist verständlich. Aber kein überzeugender Grund, den Kampf um Regierungsmehrheiten für solche Veränderungen aufzugeben und CSU und Grüne bei diesen Fragen für identisch zu erklären.

Mit seinem Aufruf zum Schmollen macht sich Welzer zum nützlichen Narren von Merkels Demobilisierungstrick. Er stellt seine Reputation als ökologischer Vordenker in den Dienst der Gegner einer ökologischen Transformation und konterkariert das Engagement hunderttausender Menschen in Deutschland für eine andere Politik. Keine Stimme abzugeben ist eine Stimme für den Status quo.

Es ist für den Kampf um die soziale und ökologische Zivilisierung des Kapitalismus zerstörerisch, wenn einflussreiche Stimmen des linkskritischen Lagers dem im Kern rechten Diskurs der Politikverdrossenheit aufsitzen und sich die Unterscheidung zwischen „Bürgern“ auf der einen und „Politikern“ auf der anderen Seite als gesellschaftlichen Leitkonflikt aufschwatzen lassen.

Für manche Linke kommt eine grundlegende Skepsis gegenüber Regierungsmacht hinzu. Parteien streben Regierungsmacht an, doch das ist bei ihnen verpönt und wird als Machtgeilheit gesehen. Es geht aber darum, einen sozialen und ökologischen Wandel, der aus der Gesellschaft kommt, in parlamentarischen Einfluss und gesetzgebende Regierungsmacht umzusetzen und so Gesellschaft zu verändern. Eine gesellschaftliche Linke, die auf diesen entscheidenden Schritt verzichtet, degradiert sich selbst zum Stichwortgeber für die Sonntagsreden einer auf ewig von CDU und Wirtschaftseliten geführten Regierung. Sie zelebriert die eigene Unterlegenheit.

Eine billige Ausrede für die linke Selbstentmachtung ist der Verweis, dass es bei Rot-Grün neben dem Ausstieg aus der Atomenergie, der Energie- und der Agrarwende,
den schwul-lesbischen Partnerschaften und dem liberalen Staatsbürgerrecht auch Hartz IV und Steuersenkungen gegeben hat. Denn das unterstellt, aus Fehlern und Niederlagen nicht lernen zu können. Schmollen ist keine politische Haltung, länger als zehn Jahre Schmollen ist regressiv. Vor allem wenn dadurch die Parteien am Ruder bleiben, die keinen dieser Fehler korrigieren werden.

Finanzkrise, Spaltung der Gesellschaft, die europäische Krise und das gigantische Marktversagen beim Klimawandel haben viele Menschen überzeugt, dass demokratische Politik sich wieder trauen muss, den Märkten zu sagen, wo es langgehen soll. Wir brauchen nicht Merkels marktkonforme Demokratie sondern demokratisch regulierte Märkte.

Die Abwesenheit des ideologischen Furors der letzten Dekaden sollte niemanden über die konkrete Politik dieser Koalition hinwegtäuschen. In Angela Merkels Perspektive sind hohe Löhne, Sozialstaat, Umweltstandards und Steuern Hemmschuhe für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Für diese Politik wird sie von den mächtigsten Lobbys unseres Landes unterstützt. Diese Politik zwingt sie Europa auf. Bei der Bundestagswahl hat Deutschland die Möglichkeit, das Zeitalter des Neoliberalismus auch in der Politik der Bundesregierung zu beenden.

Es wird keine langfristig angelegte Zivilisierung des europäischen Kapitalismus, keine grüne Transformation unserer Wirtschaft, keine strikte Regulierung des Finanzmarkts und keine Bewahrung des europäischen Wohlfahrtsstaats geben ohne sozial-ökologische Reformregierungen in den wichtigsten europäischen Staaten. Das gilt vor allem für Deutschland, das Schlüsselland Europas.

Es zählt also jede Stimme. In der öffentlichen Debatte – und in der Wahlurne.

Erschienen im SPIEGEL 27/2013 vom 1.7.2013, S. 26

 

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